Rrrrrrrrrrrring…
Es war das eindringliche Läuten des Telefons, das mich jäh aus meiner lethargischen Schweigeminute kurz nach der Tagesschau riss.
Bewaffnet mit ein paar übrig gebliebenen Salzkräckern vom Wochenende und einer Flasche Cabernet hatte ich mich gerade auf die Couch gelümmelt und suchte nach der Fernbedienung, da mein TV meistens kalt bleibt und die Funktastatur offensichtlich aus Langeweile ein Eigenleben entwickelt hat.
„Wer stört?“ maulte ich in den Hörer, während ich die Sofakissen nach der verschwundenen Flitsche durchforstete.
„Steinhaus hier, guten Abend.“
„Guten Abend Frau Steinhaus, ich wollte gera…“
„Ich störe hoffentlich nicht, ich kann auch gerne morgen noch mal anrufen, obwohl… es wird nicht lange dauern, denke ich…“
Soso – denkt sie das also. Da denke ich allerdings ganz anders. Frau Steinhaus ist meine Nachbarin und darüber hinaus eine allein stehende Frau in den Mittfünfzigern. Ihr Mann war „nur mal Zigaretten holen.“ – Das ist jetzt allerdings fast drei Jahre her und mittlerweile hat sie die Hoffnung aufgegeben, dass er den Weg nach hause allein zurückfinden wird. Vom Typ her erinnert sie mich ein wenig an die weißgekittelten Schlusen, die einem an der Eingangstür bei ‚Douglas‘ mit Zahnpastalächeln und drei Flakons gefüllt mit hochprozentigen Duftstoffen entgegenstürzen. Die Haare wasserstoffblond gefärbt und eine Haut wie ein sonnenbankgeschädigtes Albinokaninchen – immerhin hat sie es in den letzten zwei Jahren geschafft, ihre Kleidergrösse auf achtundreissig herunterzuhungern.
„Na ja, eigentlich wollte ich gera…“
„Oder ich kann auch mal schnell vorbeikommen, es dauert auch nicht la…“
„Neiiiiiiiiiiiiiiiin… ääh, ich meinte, ich komme gerade aus der Dusche.“
Und das stimmte sogar, nur dass der eigentliche Grund in wenigen Minuten beginnen würde und ich diese verflixte Fernbedienung immer noch nicht gefunden hatte. Ein Tatort mit Schimmi, wenn auch in der neunten Wiederholung, ist für mich immer noch der beste Grund, meinen Fernseher mal wieder zu entstauben.
„Dann erzähl‘ ich’s Ihnen kurz am Telefon, es ist nämlich…“
„Hab‘ sie!!!“
„Was haben Sie?“
„Na, die Fernbedienung!“ Beseelt angelte ich das verwunschene Teil unter der Couch hervor.
„Ach so, Sie wollten sicher Fernsehen gucken. Was läuft denn schönes?“
„Schimanski im Dritten.“
„Den hab‘ ich ja auch immer gerne gesehen. Also spannend bis zur letzten Minute. Und dann dieser Kommissar. Wie hieß er noch gleich? Georg oder George oder so?!“
„George! Götz George!“
„Genau. Sag‘ ich doch. Also so ein hübsches Kerlchen. Für sein Alter…“
Ich grummele leise vor mich hin. Ja, da hat sie ja nicht unrecht. Auf das Kerlchen kann man fast ’n bisschen neidig sein. Die wohldosierte Mischung zwischen Macho und Weichei – sozusagen die coolste Sau, seit es Tatort gibt.
„Na ja, aber privat soll er ’n Arschloch sein…“ log ich in den Telefonhörer.
„Was passiert denn da jetzt?“
Bitte jetzt nicht das! Ich kenne die Folge zwar in- und auswändig, verspürte aber nicht die geringste Lust dazu, eine ausführliche Inhaltsangabe vortragen zu müssen.
„Ach, wie immer: ‚Ne Bande Waffenschieber macht den Ruhrpott unsicher und bei den Bullen gibt’s ’ne undichte Stelle. Zwei Morde und ein leerer Geldkoffer. Aber am Ende wird alles gut.“
„Schön, also ich muss Ihnen was erzählen. Der Alte von nebenan hat ’nen neuen Zaun gebaut. So was von hässlich und viel zu hoch. Sie arbeiten doch bei Gericht, kann man da nix machen?“
Hääää? Also ehrlich, und ich dachte, sie hätte ernsthaft meinen Ausführungen zum heutigen Tatort gelauscht. Und jetzt der Alte? Mit dem Alten meint sie übrigens den pensionierten Postbeamten, der sich ihre Nachbarschaft mit mir teilt. Ein langweiliger Gnom mit fleischfarbiger Badekappe, langweiliger Ehefrau und noch langweiligeren Hobbys. Eines davon ist wohl das Errichten von Gartenzäunen, denn mir war es gestern abend auch aufgefallen, dass er ein neues, drei Meter hohes Prachtexemplar erbaut hatte.
„Mmmmh, es gibt schönere Zäune. Aber ob man da was gegen machen kann…?“
„Haben sie ihn eigentlich schon?“
„Wen?“
„Na, die undichte Stelle bei der Polizei!“
Ach ja, ich hätte es fast vergessen: Frauen können ja im Gegensatz zu Männern auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig kommunizieren. Sie beginnen ein Thema, schalten sogleich und ohne Vorwarnung auf ein vollkommen neues und kehren im Schlussakkord zum ersten zurück, dem sie sicherheitshalber noch ein paar neue Aspekte hinzugefügt haben.
„Nee, aber Schimmi ist knapp davor: Ihm fehlt nur noch der endgültige Beweis. Und jetzt muss er verdeckt ermitteln, damit er nicht auffliegt.“
„Ist das die Stelle, wo er sich als Penner verkleidet hat?“
„Die war schon.“
„Schade.“
Kein einziges Mal in diesem Tatort hat Schimmi sich als Penner verkleidet, aber ich wollte jetzt auch nicht anfangen zu diskutieren.
„Das ist die Stelle, wo der Alte ääääh Schimmi Leute bis über die Grenze nach Holland verfolgen muss.“
Die Alte äääh Frau Steinhaus machte mich langsam etwas kirre. Die erste halbe Krimistunde war bereits verstrichen und ich hatte so gut wie nichts richtig mitbekommen.
„Sagen sie mal, darf der denn so einfach über die Grenze?“
„Ja klar, das nennt man grenzüberschreitende Ermittlungen. Der darf das.“
„Nein, ich meine, ich habe eben mal nachgemessen. Der Zaun steht nicht genau auf der Grenze. Ein Teil ist auf meinem Grundstück.“
Ich nahm mir fest vor, vor dem nächsten Tatort das Telefonkabel aus der Wand zu ziehen.
„Wie viel ist es denn?“
„Mindestens zwei Zentimeter. Aber sagen sie doch mal, das ist doch verboten, oder?“
Schimmi war mittlerweile wieder wohlbehalten nach Duisburg zurückgekehrt und lieferte sich gerade eine wilde Verfolgungsjagd im Hafen.
„Gleich hat er ihn – an der nächsten Ecke schneidet er ihm den Weg ab. Ääääh, da läuft jetzt gerade die Verfolgungsjagd im Duisburger Hafen. Sorry, wie war das? Ja, das ist verboten. Und jetzt?“
„Also das Verfolgungsjagden im Hafen nicht erlaubt sind, darauf wäre ich auch gekommen. Ist der Verräter denn schon enttarnt?“
„Schon seit mehr als ’ner halben Stunde. Schimmi steht kurz vor dem Abschluss.“
„Soll ich ihn verklagen?“
„Schimmi???“
„Nein, den Alten!“
„Weswegen?“
„Na wegen des Zaunes.“
„Ähm, welcher Zaun? Ach so… wegen der paar Zentimeter…? Vielleicht können Sie ja ’nen deal machen: der Zaun bleibt so, wie er ist, aber dafür wirft er diese dämlich grinsenden Zwerge aus seinem Vorgarten direkt in den Duisburger Hafen.“
„Wohin?“
„Ähm, ich meinte: auf’n Müll.“
„Was war übrigens in dem Koffer?“
„Was? Welcher Koffer?“
„Na, der Geldkoffer.“
Mir war jetzt irgendwie danach, den Koffer mit meiner Nachbarin zu füllen und diesen im Duisburger Hafen zu versenken.
„Der war leer. Nichts drin. Ohne Inhalt. Capisci?“
„Und Sie glauben, der würde sich auf diesen deal einlassen?“
„Was? Mit leerem Koffer?“
„Nein, mit den Gartenzwergen!“
„Dafür muss er ja den Zaun nicht abreissen. Es käme auf einen Versuch an, und wenn Sie ’nen guten Tag erwischen… wer weiss?!
„Ich treff‘ seine Frau ja schon mal beim Bridgeabend. Vielleicht kann sie ihn ja überreden?! Gibt’s schon Tote?“
„Ja, zwei Stück, beide männlich und so was von tot.“ – Und gleich gibt’s die dritte Leiche, grummelte ich vor mich hin.
„Und wer war der Mörder?“
„Der Alte.“
„Was?“
„Ähm, nein, ein Profikiller, der für die Schieberbande arbeitete. Und der ist jetzt auf der Flucht.“
„Ich glaube, dass ist ’ne gute Idee.“
„Bitte…?“
„Da könnte ich sie gleich mal fragen… Wissen Sie, sein Pflaumenbaum hängt doch halb auf meinem Grundstück, und das ist ja vielleicht ’ne Sauerei, wenn die Früchte auf dem Rasen verfaulen.“
„Ja, aber vielleicht stockt er dann den Zaun auf, damit keine Äste mehr herüber wachsen können?“
Ich musste mir gerade vorstellen, wie Frau Steinhaus beim Einsammeln der verfaulten Nachbarspflaumen von einem drei Meter hohen Zaun erschlagen wird. Irgendwo hatte ich doch noch eine Motorsäge…
„Haben sie den Mörder schon?“
„Ja, der ist allerdings schon wieder auf Bewährung draussen und der Geldkoffer vergammelt im Archiv.“
„Ist der Film etwa schon zu Ende?“
Ich flötete nur ein leises „Ja“ in den Äther, obwohl mir in diesem Moment vieles durch den Kopf ging, ich aber das gute nachbarschaftliche Verhältnis nicht trüben wollte.
„Ich muss mir das ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen. Andererseits hab‘ ich durch den Zaun im Sommer auf der Wiese ein wenig Schatten, dann brauche ich den Schirm nicht aufstellen und…“
„Schlafen Sie drüber!“
„Danke für den Rat. Gute Nacht, Herr Kommissar.“
„Gute Nacht, Frau Schimanski.“
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