Spätestens dann, wenn der Sportteil der Tageszeitung den Umfang eines Bestsellerromans erreicht hat, der Nachbar sein Auto mit der nationalen Flagge schmückt und den Grill auf Hochglanz poliert, regiert im Lande wieder einmal die unangefochtene Nummer eins des Sportadels: König Fussball.
Weder Kosten noch Mühen werden gescheut, um der sabbernden Fangemeinde die wenigen und kostbaren Tage des aristokratischen Sportereignisses so angenehm wie möglich zu gestalten. Adel verpflichtet. Die Fernsehanstalten buhlen mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht um die Übertragungsrechte der besten Spiele und damit um die Gunst der Zuschauer und so manche Sportmumie aus vorsinflutlichen Zeiten wird aus der finstersten Kellerecke hervorgekramt, um die Helden von heute mit mehr oder weniger qualifizierten Bemerkungen zu zensieren. Schön staubig – staubig schön.
Grillkohle, Nackensteaks und Kartoffelsalat feiern jetzt Hochsaison, und besagter Nachbar versichert mir, dass sein Vorrat an Thüringer Grillern bis zum Endspiel reichen wird – mindestens! Und gegen das Fußballfieber helfe am besten „viel trinken“, noch besser „ganz viel trinken“, am besten besorge man also gleich einige Fässchen von der besagten Wundermedizin. Und sicherheitshalber drei Kästen auf Reserve, damit man sich nicht später an der Tanke um den letzten Sixpack prügeln muss. Und und und… Hauptsache, es bleibt sport-feucht-fröhlich.
Doch seit der letzten Weltmeisterschaft schwebt ein neuer Trend über der Fußballfangemeinde, das „Public Viewing“. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das gemeinschaftliche Mitverfolgen vieler Zuschauer von live übertragenen, medialen Großereignissen auf Großbildwänden an öffentlichen Standorten; wörtlich übersetzt bedeutet es „Öffentliches Anschauen“. Igitt – wie schamlos. Dabei ist der vor zwei Jahren eingedeutschte Begriff nur eine denkbar schlechte Bezeichnung für etwas gar nicht so neues. Das Phänomen trat nämlich schon 1954 auf, als sich die Menschen von den wenigen Fernsehgeräten in den Schaufenstern der Warenhäuser und Kneipen versammelten, um in kollektiven Ballrausch zu verfallen.
Da hat sich also in den Jahren nicht viel geändert, außer dass die Fernsehgeräte mittlerweile zu Großbildwänden mutiert sind. Und dass sie jetzt nicht mehr Fernsehgeräte heißen, sondern „TV’s“, der Kartenvorverkauf zum „Ticketing“ umgetauft wurde, die freiwilligen Helfer als „Volunteers“ herumwuseln und die Reichen und Schönen in der „Hospility Zone“ Unterschlupf finden. Manche Marketing-Ausdrücke wirken wohl eher belustigend als informativ. „City dressing“ – das klingt mehr wie eine Salatsosse als nach dem Ausdruck für das Beflaggen einer Stadt. Aber egal, zur EM wird eben „Denglish“ gesprochen. Und jetzt noch das „Public Viewing“ – schon wieder so ein Anglizismus. In Amerika wird dieses Wort für die Aufbahrung von Toten benutzt – sicherlich ein guter Grund sich zu fragen, ob es denn nicht ein passenderes Wort für dieses Massenphänomen gibt. Bei einer landesweiten Umfrage eines bekannten Radiosenders wurde die beste Wortalternative für „Public Viewing“ gesucht und gefunden: Rudelgucken.
Rudelgucken – das klingt nicht nur schön deutsch, sondern lässt uns darüber hinaus noch in alten Jugendzeiten von Hordensaufen und Kollektivkotzen schwelgen. Zugleich weckt es einen der ältesten Urinstinkte des Menschen: das Bilden einer Gemeinschaft zwecks gemeinsamer Ziele. War es in frühen und frostigen Zeiten noch der nackte Überlebenswillen, der unsere Vorfahren am Lagerfeuer aneinanderrücken ließ, rotten sich die Menschen heutzutage aus anderen Beweggründen zusammen. Dabei gehen die Fussballfans unter ihnen nicht nur eine schon beinahe metaphysische Verbindung untereinander ein, sondern auch mit ihrem Land nebst dem dazugehörigen Team.
Kein Michael Ballack, kein Miroslav Klose und auch kein Jens Lehmann gewinnt das Spiel allein – sie alle brauchen ein Team, um ihr Ziel zu erreichen. Wir auch, und wie könnte Gemeinschaftssinn und Vaterlandstreue besser zum Ausdruck gebracht werden als mit Deutschlandfahne bewaffnet und einskommafünf Promille im Blut im Sturm auf die Fußballbastille zu blasen. Sozusagen im kollektiven Rudelrausch.
Dass der reibungslose Biernachschub dabei wichtiger ist als der fein gespielte Doppelpass – wen interessiert das schon? Denn derjenige, für den Fußball „nur“ ein Spiel ist, ist beim Rudelgucken bestens aufgehoben.
Alles Fußball oder was…?
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