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Oh Mosella

Von Nacktärschen, Goldkapseln und ehrlichen Häuten

 

In Vino Veritas… das wussten schon die alten Römer, als sie vor zwei Jahrtausenden das wahre Gold der Mosel entdeckten. Viele mehr oder weniger gut erhaltene Kelteranlagen zeugen heute noch davon, dass die einstige Weltmacht nicht nur den Falerner im eigenen Reich zu schätzen wusste, sondern auch in ihren Provinzen mächtig punktete. Über den Geschmack aus heutiger Sicht hüllen wir mal den Mantel des Schweigens, denn die Finessen der Kelterkunst waren damals lange nicht so ausgefuchst, als dass man nicht irgendwelche Zusätze wie Honig beimengen musste.

Zweitausend Jahre später hat sich die Moselregion tatsächlich zu einem Paradies der lieblichen Weingenüsse herausgemergelt. Nur wurde kein Honig mehr zugemischt, sondern im Wissen um die Edelfäule und derer süsser Konzentration der Traubenrosinen eine unerträgliche Anzahl hochkonzentrierter Sirupe geschaffen, die man sich heute über’s Vanilleeis kippen würde. Auf den Listen fanden sich fast ausschliesslich Spät-, Aus- und Beerenauslesen, und jeder Winzer war bestrebt, seine Waage möglichst in die höchsten Regionen der öchsler’chen Grade zu treiben. Jahrhundertjahre wie 1959 oder 1976 bescherten eine Unzahl tiefprozentiger, aber zuckersüsser Trockenbeerengesöffen, die auf Auktionen entsprechende Preise erzielten, die selbst den Schlossherren des Chateau d’Yqem die Wutröte ins Gesicht trieben.

Dann erfand Bacchus das Reisen fremder Nationen in die heimeligen Moselgestade. Flugs mit der Ankunft der ersten Japaner im Delta der nationalen Rieslingelite war die Mosel nicht nur bis in ihre letzten Winkel fotografisch abgemessen, sondern auch ihrer bis dahin geltenden hohen Qualitätsansprüche beraubt. Mindere Qualitäten wurden zusammengemischt, verrührt, vergoren, verpanscht, und geboren war der Kröver Nacktarsch, die Zeller Schwarze Katz‘ und lauter solche witzig anmutenden Lagen, die der Tourist aus Fernost bei der Übersetzung wahrscheinlich mit dem dämlichsten aller Grinsen beklatscht hat. Weine dieser Zunft finden sich heute noch zuhauf bei Kellerräumungen grosselterlicher Erbbestände.

Bacchus zürnte, und gebot dem Menschen doch etwas sorgsamer mit seiner Lieblingsplörre umzugehen. Und der Mensch besann sich und entdeckte, dass ein heimischer Wildschweinbraten mit einem trockenen Gläschen Moselriesling weitaus besser schmeckt als wie mit der honigsüssen Versuchung einer Auslese. Aber – viel wichtiger – es war jetzt cool und angesagt, herbe Weine zu trinken, also solche, die im Mund stauben und schmarren und die sich nur mit roher Gewalt durch den Kehlkopf quetschen lassen. Der erste, zum Glück nur vorrübergehende Dolchstoss für die Moselwinzer.

Der zweite war das Geschrei nach anderen Rebsorten. Bis dahin gab es an der Mosel Riesling – basta! Warum auch nicht, denn die Rebsorte ist quasi nur für die Steilhänge und Schiefergesteine der Mosel geboren worden. Keinem Winzer des aufgehenden 20. Jahrhunderts wäre es in den Sinn gekommen, es auch mal mit Weißburgunder oder gar rotem Burgunder zu probieren. Für den letzteren ist sowieso die Ahr zuständig. Kerner, Müller-Thurgau und andere Nebenerwerbsreben wurden schon in Maßen angebaut, aber jetzt trauten sich die Moselaner auch an die exotischsten Erwüchse bacchinaler Kelterkunst heran. Und mittlerweile gibt es trocken, halbtrocken, feinherb und lieblich in der fülligen Vielfalt verschiedenster Rebsorten.

Und Bacchus freute sich. Nicht nur er, denn mittlerweile ereilt den geneigten Weinfreund eine breite Palette erlesener Köstlichkeiten von der Mosel. Die Bandbreite reicht von staubtrocken bis „Honigmelone“; der herbe Rieslingschoppen des Waldarbeiters neben der Weißburgunderspätlese für die Damenwelt, der gemässigte Kabinett für alle Fälle folgt gleich einem exotischen Frühburgunder (den ich selbst am liebsten trinke), und dessen Kultivierung und Verarbeitung Schwierigkeiten mit sich bringt, die ich selbst nie für möglich gehalten hätte, aber den höheren Preis rechtfertigt.

Und jetzt zur Praxis. Ich meine den Weinkauf zu welchen Preisen, welche Lagen und überhaupt. Da komme ich auf die Goldkapseln, die nur als Sinnbild für das stehen, was man eigentlich nicht haben muss. Das Angebot an der Mosel ist riesengross, und reicht von superfair bis überteuer. Spitzenlagen erzielen regelmässig Höchstpreise, und wenn das nicht ein Winzer ausnutzen würde, wäre er schön blöd. Das wäre ich auch, würde ich diese Spitzenpreise bezahlen. Ich liebe Wein und bilde mir ein, etwas davon zu verstehen, aber die letzten Nuancen, die mit zweistelligen Eurobeträgen in Verbindung stehen, möchte ich nicht unterstützen. Ein Beispiel: Ein trockener Riesling – also ansich ein prädikatsloser Schoppen – kostet im allgemeinen zwischen vier und sechs Euro je nach Winzer. Bei meiner sommerlichen Radreise durch das Land der Mittelmosel lag der Rekord bei 34,90 Euro für eine Flasche „Riesling trocken – Brauneberger Juffer“, die allerdings erst ab September verfügbar ist. Beworben mit der „Goldkapsel“ – für was die auch immer steht, jedenfalls ist sie teuer. Dann ist der Winzer natülich in allen einschlägigen Magazinen der Weingenußwelt hochgelobt, und das will natürlich extra bezahlt werden.

Probieren, probieren und nochmals probieren. Man ist erstaunt, welche Qualitäten sich oft in unscheinbaren Flaschen verstecken. Da geht man ein paar Kilometerchen von der Mosel weg, beispielsweise nach Veldenz oder Platten, und findet leckere Weine zu fairen Preisen. Da produzieren ehrliche Häute, die sich schämen, für einen guten Tropfen mehr als den Durchschnitt zu verlangen. Da sitzen kleine Winzer, die grosse Weine machen.

. . .

Zum Wohlsein!

Vivat Bacchus! Schon die alten Römer wussten den Wein hoch zu schätzen, und auch, wenn der Falerner von damals nicht das war, was man zweitausend Jahre später unter einem guten Tropfen verstehen wird, liess sich der Siegeszug des vergorenen Traubensaftes nicht aufhalten. Spätestens mit dem Einzug des globalen Handels schwemmte eine unüberschaubare Anzahl an Wein über unser Land hinweg: Cabernet aus Chile, Shiraz vom fünften Kontinent und der Chardonnay aus dem sonnigen Südafrika füllen mittlerweile die heimischen Supermarktregale, und das in den meisten Fällen zu solchen Preisen, wo man fast neidig wird, denn selbst könnte man nicht annähernd so billig viele tausend Kilometer weit reisen. Und jeder verdient daran – der eine mehr, der andere weniger.

Viele Jahre lang war ich weintechnisch auf Weltreise, und es waren viele köstliche Tropfen darunter. Mittlerweile bin ich wieder in heimischen Gefilden unterwegs. Einerseits ändern sich erwiesenermassen alle paar Jahre die Geschmacksgewohnheiten, andererseits ist Deutschland nun mal Weinland und steht qualitätsmässig mit an vorderster Front in der Gilde der Kellermeister. Der Weg zur Mosel oder an die Ahr ist etwas aufwändiger als in den Supermarkt, aber der Umweg lohnt sich. Ich kann probieren. Es wird nicht bloss gekauft, sondern zelebriert. Vor mir die leckere Auswahl der letzten Lese, und hinter mir das geballte Wissen des Winzers – das kann dann auch mal etwas länger dauern. Ein guter Wein braucht halt seine Zeit.

Am liebsten verbinde ich das angenehme mit dem angenehmen, und so habe ich „meinen“ Winzer in Platten b. Wittlich gefunden. Hier wird die Weinprobe zur Erlebnistour, ein Kurzurlaub mit gutem Essen, Radeln durch die gesunde Eifelluft und eben Wein. Ganz nebenbei bietet das Weingut Görgen auch noch Stellplätze für Wohnmobilisten an, so dass ich dort quasi rundum glücklich versorgt bin. Platten liegt nicht direkt an der Mosel, sondern sieben Kilometer entfernt etwas versteckt an der Lieser, und so kam ich irgendwann mal auf die Bezeichnung „Eifelwinzer“. Man trifft hier nicht auf die Massen wie in den berühmten Weinorten der Mosel, aber auch nicht auf die teils exorbitanten Preise, die sich so einige Winzer dort zu fragen erlauben. Dank des nahen Maare-Mosel-Radweges radelt man in kürzester Zeit auf einer alten Bahntrasse nach Lieser und wenige Kilometer weiter mitten ins Herz der Mittelmosel nach Bernkastel. Oder in die andere Richtung hinein in die stillen Eifelwälder…

Wie beim Wein hat man die Qual der Wahl.

 

Neulich beim „Eifelwinzer“…

Ein paar Tage zuvor.

„Guten Tag, ich bin jetzt schon mehrmals bei Ihnen eingekehrt und möchte jetzt doch mal eine „richtige“ Weinprobe machen.“
„Dieses Jahr oder nächstes?“  Das breite Grinsen war selbst durch das Telefon deutlich wahrnehmbar.
„Am späten Freitagnachmittag, wenn’s passt.“
„Wir sind gerade mitten in der Lese, also so ab neun Uhr abends hätte ich Zeit.“
„Ich habe gehört, ihr habt auch Stellplätze. Wir kommen mit dem Camper und da woll…..“
„Überhaupt kein Problem, kommt einfach vorbei.“

Freitag am späten Nachmittag. An der Theke werde ich von zwei freundlichen Mitarbeiterinnen empfangen.

„Hallöchen. Ich hatte diese Woche mit dem Chef telefoniert. Wir sind mit dem Camper hier.“
„Sehr schön. Herzlich willkommen! Dann fahren Sie einfach am Haus vorbei und weiter hinten sind die Stellplätze.“

„Dort stehen wir bereits, und wir haben uns auch schon am Strom bedient. Ist der Chef denn schon da?“
„Ja, aber der kocht gerade. Momentchen…“

Ein paar MInuten später dann der Chefempfang.

„Ach, da seid ihr ja. Ich koche gerade, aber lasst euch erst mal Wein geben.“

Das Weingut verfügt über eine Vinothek, die selbst einem Staatsbankett gerecht würde. Nun sollte man aber Verständnis haben, dass diese nicht für eine Person geöffnet wird. Die Weinverkostung findet im allgemeinen an der Theke statt, wobei man aufzählt, was man gerne probieren möchte. Dann öffnet sich eine grosse Kühlschublade, und die Weine werden herausgesucht. Was nicht offen ist, wird geöffnet. Dazu dann die passende Anzahl an Gläsern. Und die freundlichen Mitarbeiterinnen erfüllen sorgsam meine Wünsche.

„Den halbtrockenen brauche ich nicht mehr zu probieren. Da nehme ich zwölf Flaschen mit, aber bitte den 2015’er. Und zwei Flaschen Riesling Spätlese. Ich suche noch einen richtig staubig trockenen Riesling.“
„Dann den trockenen QbA. Viele sagen übrigens, dass der Riesling Classic noch etwas besser wäre.“ Und schon stand eine weitere Flasche vor mir.
„Darf ich Sie alleine lassen?“ Mehrere Tische sind mit Gästen besetzt, und die wollen schliesslich auch bedient werden.
„Na klar. Probieren kann ich allein.“
„Prima. Wenn Sie Fragen haben… der Chef und ich sind in der Nähe.“

Dann probiere ich mich mal weiter durch…

„Ok, dann noch sechs Flaschen vom Trockenen und zwei Flaschen Classic zum Nachprobieren zuhause.“
„Ist notiert.“

Mittlerweile ist in der Küche etwas Luft und Cheffe lugt um die Ecke.

„Alles gut?“
„Alles bestens! Die leckersten Weine sind übrigens fast alle vom Jahrgang 2015. War ein guter, oder?“
„Der beste seit Jahrzehnten. Sie sollten aber auch mal unsere Burgunderweine probieren. Vorab den Blanc de Noir, ein weißgekelterter Spätburgunder. Gibts in trocken und halbtrocken. Meine Damen hier trinken gerne Weiß- oder Grauburgunder.“
Nun schaltet sich auch die Dame ein: „Also ich mag eher den Weißburgunder. Probieren Sie aber ruhig mal beide.“
„Also erst einmal muss ich etwas essen. Ok, also die drei probiere ich gerne noch, aber bitte nur einen winzigen Schluck.“ Letzteres deswegen, weil die eingeschenkten Proben meist ein halbes Weinglas füllen. Ok, aber ich muss ja nicht mehr fahren.

„Und was halten Sie davon?“
„Schreiben Sie mal zwei weitere Flaschen vom Blanc de Noir auf.“

Zum Abendessen auf der Terrasse gibt es dann Filetspieß mit Tzaziki, hausgemachte Bratkartoffeln und einen üppigen Beilagensalat. Dazu ein Glas vom staubtrockenen Riesling. Heureka – genau den habe ich gesucht. Ein Wein, der den Härtetest besteht und auch zu einem Gyrosteller passen wird.

„Ich müsste meine Bestellung nochmals ändern. Von dem trockenen zwölf Flaschen. Dafür fällt der Classic raus. Und bitte noch eine Flasche Blanc de Noir als Nachttrunk für nachher.“

Am nächsten Morgen.

„Machen Sie mal aus den zwei Flaschen Blanc de Noir sechs.“

Das Gesamtpaket bestand letztendlich aus zwölf Flaschen Riesling halbtrocken, zwölf Flaschen Riesling trocken, sechs Flaschen Blanc de Noir und zwei Riesling Spätlesen. Alles mit zehn Prozent Rabatt und sorgsam vom Chef zusammengestellt, verpackt und abholbereit vor der Vinothek deponiert.

„Trinken Sie auch Roten?“

Ohne meine Antwort abzuwarten, bekam ich noch eine Flasche prämierten Dornfelder in die Hand gedrückt…

Zum Wohlsein im Haus der besten Schoppen!

. . .

Analog im Dialog

Eine Sehnsucht nach dem Einfachen und Natürlichen, die sich beständig regt. So beschreibt Theodor Fontane das vielleicht Beste in uns. Und genau dieses Gefühl war es, das mich wieder zurück zur analogen Fotografie brachte. Zurück zum Ursprung, zur Unvollkommenheit des eingefangenen Augenblicks, der sich kümmerlich durch die Alben und Pappkartons der abgelichteten Konterfeis schlängelt. Zurück zum Korn und zur Unschärfe, zurück zu den verunglückten Farbpanschern verbummelter Filmrollen. Zurück zu den Wurzeln.

Mut zum Fehler. Es ist gerade dieses Unperfekte, das den besonderen Reiz eines Augenblicks gefrieren lässt und ihn unvergessen machen kann. Der Fehler als Blickfang, als Anziehungspunkt. Ein exklusives Detail in einer erbarmungslos virtuosen Welt. Spass haben an weniger. Weniger Automation, weniger Megapixel und weniger das Gefühl haben, der Reiz müsse in der vollendeten Synthese jener antrainierter Faktoren liegen, die „das perfekte Foto“ ausmachen. PhotoShop war gestern, und heute grüsst wieder der freundliche Fotohändler.

So schön Retro. Es hat einen Reiz, weil es viel anspruchsvoller ist als das gewohnte Digi-Knipsen. Eine Filmrolle einlegen, spannen, wohl überlegt und nur zwölfmal auslösen. Das Filmdöschen dann zur Entwicklung bringen und gespannt auf die Bilder warten. Die Begrenzung, die Entschleunigung, die Spannung – eine Faszination der Belichtung, der Schärfe, und der Motivauswahl. Und jedes einzelne Bild gewinnt wieder an Wert.

Bilder machen statt Fotografieren.

Ich bin doch ein Macher.

                                                                         * * *

 

Überlebt

Vorgestern hörte ich, dass sie überlebt hat. Wie durch ein Wunder.

Ein ganz normaler Mittwoch, als ich frühmorgens auf den Zug wartete. Immer die gleichen Menschen, denen ich irgendwann keine weitere Beachtung mehr schenkte. Hier mal ein ‚Moin‘ und ein paar Meter weiter nur ein Kopfnicken. Müde sind sie alle noch. Ich eingeschlossen. Meine Kollegin, die des öfteren den selben Zug nimmt, strullerte mich ausführlich mit der gestrigen Tanzprobe ihres Karnevalvereins voll. Hoffentlich hält sie im Zug wenigstens ihre Klappe, damit ich noch ein wenig vor mich hindösen kann, dachte ich nur.

Ich musste blinzeln, da die Sonne gerade das Einfahrtssignal passiert hatte und mir mit ihrer morgendlichen Sommerlaune ins Gesicht schien. Noch fast drei Wochen Urlaubsvertretung – ach, die Zeit wird auch vorbeigehen. Irgendwann habe ich ja selbst dann mal Urlaub. Bloss wann? Und mit wem sollte ich ihn verbringen? Einer Einladung meiner Eltern in die Toskana folgen oder doch lieber mit dem Kumpel nach Spanien zum Abfeiern?

Sie trug eine lange Wolljacke, die viel zu warm für diesen Sommermorgen war – jedenfalls meiner Meinung nach, aber manche Menschen frösteln ja selbst bei tropischen Temperaturen. Und dann die knallroten Schuhe. Wenn man jeden Tag zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Ort betritt, fällt einem irgendwann jede noch so kleine Unstimmigkeit auf. Und irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Das jedenfalls dachte ich, als sie an mir vorbeiging. Nicht so sehr, weil ich sie bis dahin noch nie dort gesehen hatte, vielmehr, weil sie nicht in das Bild der morgendlichen Normalität passte.

Ein ganz normaler Morgen, als die Lautsprecherdurchsage die Einfahrt des Zuges ankündigte. Wenn auch die Ausnahme die Regel bestätigt, bin ich doch immer wieder froh, wenn nicht durch irgendwelche unplanmässigen Rangierarbeiten oder Signalstörungen die Durchsage eine längere Wartezeit ankündigt. Meine Stempeluhr interessiert es schliesslich überhaupt nicht, und die verlorene Zeit morgens muss ich dann nachmittags dranhängen. Es sind auch mal spielende Kinder oder generell Personen auf der Strecke, die mich schon einige Zeit wartend und fluchend in Zügen verbracht haben lassen.

Ich drehte mich automatisch herum, als der Zug hupte und schärfer als gewohnt bremste. Sie ging ihm entgegen – mitten auf dem Gleis. Als ich mich wiederum umdrehte, um mir die weitere Szene zu ersparen, spürte ich bereits fliehende Menschen um mich herum. Ich rannte ein Stück mit. Dann war Stille. Sie war einfach so auf die Gleise gestiegen, kurz bevor der Zug den Bahnhof erreichte , aber niemand hat das für den Moment mitbekommen.

Ein ganz normaler Mittwochmorgen, als der Zug als sonst zum Stehen kam. Auf dem Bahnsteig rannte niemand mehr. Es war für den Augenblick vorbei. Ungläubige Gesichter über das, was gerade passiert sein musste. Entsetzen, das die Farbe aus ihnen weichen hat lassen. Einige weinten. Und mir wurde leicht übel.

Warum sie gelaufen wäre, fragte ich später meine Kollegin. Sie hatte Angst, dass der Zug entgleist und auf den Bahnsteig fahren könnte. Und warum bin ich gelaufen? So richtig weiss ich das selbst nicht. Ich denke im Nachhinein, es war der Gedanke, mit dem Tod in nahe Berührung zu kommen. Vielleicht hätte es sie zerrissen, vielleicht hätte Blut gespritzt, vielleicht wären sogar irgendwelche Teile von ihr auf mich drauf gefallen? All das. Momente wie dieser kommen einfach zu unvorbereitet und plötzlich, aber mit aller Kraft und Gewalt, die das Leben manchmal bereit hält.

Ein ganz normaler Mittwoch? Mit fast zweistündiger Verspätung im Büro angekommen und der Kaffee verstärkte meine leichte Übelkeit dann noch zusätzlich. Hier und da ein paar neugierige Fragen, ungläubige Gesichter und kurzzeitiges Entsetzen, bis sich jeder wieder seinen Tagesgeschäften widmete. Von diffizilen Fällen hab ich die Finger gelassen, aber das gröbste dann doch irgendwie geschafft. In Gedanken war ich noch immer auf dem Bahnhof.

Wie ich am nächsten Morgen von anderen hörte, hat sie sich kurz bevor der Zug über sie hinweggerollte, einfach hingesetzt. Und das hat ihr wohl das Leben gerettet.

Wie durch ein Wunder.

handymania

„Ok, also ‚ne Packung Arborio-Reis und Olivenöl Extra-Vergine. Bring’ ich noch mit. Bis später, Schatzi.“

Grummelnd stecke ich mein Handy zurück in die Hosentasche und trete aus der Warteschlange an der Supermarktkasse, in der ich mich eine viertel Stunde zuvor eingereiht hatte. Dabei waren meine ersten Einkäufe bereits auf dem Förderband platziert, und im Kopf hatte ich schon grob überschlagen, wie viel mich der heutige Einkauf kosten würde. Mit den eilig wieder in den Korb gelegten Delikatessen steuere ich sehr zur Freude der hinter mir Wartenden erneut die Regale an, um mich kurze Zeit später wiederum in die Schlange an der Kasse einzureihen zu dürfen – mit ‚ner Packung Arborio-Reis und Olivenöl Extra-Vergine und natürlich ganz hinten.

Und das alles nur, weil ich jederzeit und überall erreichbar bin oder meine es sein zu müssen. Die mobile Funktechnik macht’s möglich. War vor wenigen Jahren das Läuten eines Telefons nur in geschlossenen Räumen zu vernehmen, verfolgen heute Klingelgeräusche in unüberschaubarer Vielfalt den Menschen auf Schritt und Tritt und nach überall hin. Kaum ein paar Minuten vergehen, dass nicht von irgendwoher ein Brummen, Zirpen, Schellen, Bimmeln oder Fiepen in’s Ohr dröhnt, gefolgt von einem pseudo-überraschten „Halloooooo?“ des Angewählten. Natürlich posaunt man nicht den eigenen Namen heraus, denn wen im Umkreis der Mithörenden geht’s schon an, wie man heißt? Und schließlich weiß der Anrufer ja selbst, wen er da gerade angewählt hat – meistens jedenfalls.

Früher war das Rascheln der Tageszeitung der Standardton einer Pendlerzugfahrt, heute ist es das Klingeln des mobilen Freundes. Wahrscheinlich spart sich die Bahn deswegen auch die musikalische Untermalung einer Zugfahrt – die Klingeltöne der meisten Handys sind nämlich gar keine, sondern eher ein buntes Gedudel aus den Bereichen Charts, Musical oder Klassik. Die ersten Takte des aktuellen Lieblingshits gehören unbedingt zum mobilen Lifestyle, und das Jahresabo für polyphone Klingeltöne sorgt dafür, dass man auch immer schön auf dem neuesten Stand bleibt.

Der Empfang von Kurznachrichten wird meist nicht von einer solch kreativen Musikuntermalung angekündigt. Hier haben sich anbieterabhängig einige wenige, aber prägnante Tonfolgen standardisiert – mit dem Nebeneffekt, dass bei Einsetzen dieses Geläutes mindestens fünf Leute gleichzeitig und eiligst ihren mobilen Freund hervorkramen. Leider gibt’s meist nur einen Angewählten, so dass vier Handys gleich wieder unauffällig und unter Vortäuschen eines Hustenanfalles in den Taschen verschwinden. Schließlich gehört man selbst ja nicht zum Kreis der Süchtigen, die in Lauerstellung auf ein Lebenszeichen ihres Mobiltelefons warten.

Natürlich freut man sich über eine eingehende SMS wie ein Schneekönig, wäre beim Schreiben einer solchen das Eintippen nicht so mühsam. Also her mit den Abkürzungen. Sachen wie LG (Liebe Grüsse) oder HDL (Hab dich lieb) sind lange bekannt, doch um möglichst viel mit den 160 Zeichen zu sagen, ist so manch einer dem AKÜFI (Abkürzungsfimmel) erlegen: WZTWD? (Wo zum Teufel warst du?) oder LAWAMA! (Lass’ uns was machen!) lassen ganze Sätze auf wenige Zeichen zusammenschrumpfen. Verhunzung? Irgendwie ja schon. Ständig und wegen jedem noch so kleinen Schei.. werden SMS geschrieben, sogar noch öfters als E-mails. Die weltweiten Einnahmen aus den Handy-Kurzbotschaften beliefen sich laut Marktforschungsinstitut Gartner im Jahre 2005 auf knapp 30 Milliarden Euro und dürften der Prognose zufolge bis 2010 auf über 70 Milliarden Euro anwachsen. Na, da wird sich aber so mancher über die Rechnung freuen.

Es gibt Momente, da sind bimmelnde Handys ebenso willkommen wie Zahnschmerzen am heiligen Abend. Mozarts Zauberflöte ist bisher ohne polyphone Klingeltonbegleitung ausgekommen und wird es hoffentlich auch in Zukunft sein, und auch die montagmorgendliche Vorstandssitzung wird durch permanentes Handygeblöke nicht kurzweiliger. Ebenso daneben ist das romantische Candlelight-Dinner, wo in regelmäßigen Abständen der elektronische Giftzwerg dazwischenfunkt. Zugegeben, wenn man ein Handy mit einer Million Funktionen besitzt, möchte man auch Gebrauch davon machen, aber doch bitte nicht im vollbesetzten Bus. Hat man sich dort gerade mit der musikalischen Berieselung aus Discman, MP3-Player und ipod abgefunden, mutieren jetzt auch die Handys zu kleinen Ghettoblastern.

Vor einigen Tagen hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich träumte, alle Handys in meiner Umgebung führten ein Eigenleben und planten eine große Verschwörung. Es begann damit, dass sie grundlos und zu beliebigen Zeiten zu klingeln begannen. Wenig später steigerte sich das Ganze in ein unkontrolliertes Durcheinander von diversen mono- und polyphonen Klingeltönen, deren Lautstärke auf ein unerträgliches Maß anschwoll. Einige von den kleinen Plagegeistern hatten sogar Beinchen und hüpften im Takt ihres Geläutes durch die Gegend. Schließlich formierten sie sich in Reih und Glied und marschierten bis an die Tasten bewaffnet mit Pauken- und Trompetentönen gegen ihre Besitzer auf, denen nichts anderes übrig blieb, als mit zugehaltenen Ohren die Flucht zu ergreifen. Nur die sofortige Vernichtung aller Ladegeräte konnte schlimmeres verhindern.

Handymania – wie soll ein Phänomen beschrieben werden, für das es keinen Eintrag im Duden gibt, das sich wie eine Seuche verbreitet und mittlerweile bis in die abgelegensten Winkel der Erde reicht? Inzwischen hat fast jeder ein Handy, und ja, ich gebe es zu: Ohne Handy wäre ich aufgeschmissen. Ich möchte jederzeit erreichbar sein – von meiner nächtlichen Tiefschlafphase mal abgesehen, und auch andere erreichen können. Und ich muss sagen, wenn es auch manchmal zum unpassendsten Augenblick läutet, freu’ ich mich unglaublich über eine nette SMS oder einen lieben Anruf. Handy ist in. Handy ist cool. Handy ist geil. Handy ist eben handy.

Und ohne meinen mobilen Freund gäbe es heute abend anstelle eines leckeren Risottos nur die Reste von gestern.

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Ort der Erleuchtung

Ja, ich führe ein Doppelleben.

Tagsüber sitz’ ich auf meinem zugegeben bequemen Pupssessel in einem nichts zur Sache tuenden Amt in einer noch weniger zur Sache tuenden Stadt und schiebe Akten – abends verwandle ich mich in eine 21jährige bisexuelle Studentin mit viel Sinn für Sinnlichkeit und noch mehr stattlicher Oberweite. Die Internet- Community ‚love4ever‘ machts möglich.

Bei ‚love4ever‘ bin ich also fast allabendlich unter dem Pseudonym „Jeanette“ unterwegs. Im Grunde schlägt Jeanette’s Herz für ihre beiden grossen Leidenschaften: Transzendentalphilosophie und Poppen. Die „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant und „How To Make Love Like A Pornstar“ von Jenna Jameson stehen auf ihrer Literaturliste; als grosse Vorbilder dienen ihr die Lebenswerke von Descartes, Vin Diesel, Beate Uhse und Howard the Duck. Kurz gesagt: Jeanette ist eine total überzogene und vollkommen unrealistische Karikatur meiner blühenden Fantasie.

Dass es Mädels wie Jeanette einfach nicht gibt, bedeutet aber nicht, dass ihr die Kerle nicht reihenweise hinterherlaufen und sie hemmungslos angraben. Täglich landen mindestens acht Nachrichten in ihrem Posteingangsordner. Manchmal ist es nur ein schüchternes „Hallo“ verbunden mit ein oder mehreren Momentaufnahmen des primären männlichen Geschlechtteils. Der etwas romantischere Typ hingegen vermeidet tunlichst die Übermittlung seiner Schwanzbilder und lobt erst einmal die Qualität ihrer Brüste, bevor er im nachfolgenden Satz bedauert, dass es ja leider kein Foto von Jeanette’s Augen gibt. Und dann gibt’s natürlich noch die ganz Cleveren, die ihr Nacktfotos abluchsen wollen, indem sie sich entweder als Vollblutlesbe ausgeben oder aber gerade eben auf den bisexuellen Geschmack gekommen sein wollen. Aber hey, euch erkenn’ ich sofort! Wie sagt man so schön: Du willst mir doch nicht meine eigenen Tomaten verkaufen?

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob Jeanette’s sabbernde Verehrergemeinde einfach zu naiv ist, um Eins und Eins zusammen zu zählen, aber ich glaube mittlerweile, es ist noch um einiges schlimmer: Die Illusion einer Frau, die beim geringsten Fingerschnippen in ohnmächtige Wallung gerät, ist für viele Männer so wichtig, dass sie einfach nicht unwahr sein darf.

Ein gerade mal volljähriger Pickeljüngling aus der grossen Schwachmatengemeinde schrieb Jeanette: „Du bist wirklich sexy. Die erste, die ehrlich ist in ‚love4ever‘. Find’ ich cool. Meld’ dich mal.”

Tja, also hier bin ich. Sorry – und das wird nicht deine letzte Enttäuschung sein.

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Frauentausch

„Ich bin ab halb neun zuhause, komm‘ doch noch vorbei, wenn du magst.“

Ja, warum eigentlich nicht. So herrlich spontan, wie ich das mag. Und nur zehn Minuten bis zu ihrer Wohnung. Ich frage mich, wonach mir der Sinn steht. Zu erzählen hätte ich genug. Viel ist passiert in den letzten Wochen, aber nur wenig, was sie interessieren darf. Vielleicht möchte ich mich auch einfach nur anlehnen und meine Klappe halten. Vielleicht ein paar Streicheleinheiten geniessen. Vielleicht auch vögeln. Und vielleicht wird irgendetwas von alldem sogar passieren, sollten unsere Sinne sich denn irgendwo in der Mitte treffen.

Wir haben noch keine Namen füreinander. Bekannte, Freunde, Kumpel/-ine – das alles scheint nicht recht zu passen. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Wir stehen an einer Stelle, wo noch alles werden kann. Oder auch gar nichts. Aber keine sich fixierenden Ideale, auf die man blind losrennt. Eher ein wachsames Umschleichen, was jetzt schon einige Wochen anhält. Und das auch nicht regelmässig. Mal zusammen abgefeiert, mal gemeinsam abgetaucht, mal gegenseitig angezickt , mal so und mal so. Und so einfach. Kein Muss dahinter, nicht mal ein Soll. Nur ein Kann.

Immerhin brannten Kerzen im Wohnzimmer, wenn auch der Fernseher im Hintergrund lief und nicht ganz zu der restlichen Atmosphäre passte. Aber es störte mich nicht einmal. Im Gegenteil, vielleicht war gerade er für die gewohnte Ungezwungenheit verantwortlich, die ich in ihrer Gegenwart empfinde. Unsere Sinne trafen sich in einer angeregten Unterhaltung über ihre letzten Tage oder, besser gesagt, sie redete und ich hörte zu. Ihre Jobsuche gestaltet sich doch schwieriger als zunächst erwartet. Wieder zwei Absagen. An Urlaub nicht zu denken und die Wohnung muss auch dringend renoviert werden.

Ich war froh darüber, selbst nicht viel reden zu müssen. Je mehr sie erzählte, desto mehr rückten meine eigenen Probleme von mir ab. Nur das Stechen in der Magengegend seit Montag und die Tatsache, am Ende doch nicht das bekommen zu haben, was ich mir gewünscht hatte. Es war nicht mehr als ein Traum, der mir zuflog, zwei Wochen verweilte und sodann wieder im Himmel verschwand. Zu kurz, um dem wirklich eine Bedeutung zuzumessen, aber gerade ausreichend, um für den Augenblick den Boden unter den Füssen zu verlieren. Jung und makellos und anders war sie. Wenn ich sie jetzt bloss nicht als Massstab vor Augen hätte… das macht mir ein wenig Angst.

„Ach, jetzt kommt ja ‚Frauentausch‘. Kennst du das?“
Meine Couchnachbarin angelte sich eine Zigarette und liess sich gemütlich in die Kissen fallen. Das einzige, was mir in dem Zusammenhang einfiel, waren Frauen, die untereinander Zigaretten und Deo und dergleichen tauschten – dies allerdings gut weggeschlossen und ohne Bewährung.
„Das war ‚Frauenknast‘. Beim ‚Frauentausch‘ wechseln zwei Frauen für eine Zeit die Familie.“
Ach, dachte ich, wieder ’ne neue Doku-Soap, die die Welt nicht braucht. Ich weiss schon, warum mein TV meistens kalt bleibt.

Frauentausch – In jeder Folge dieser Doku-Soap ziehen zwei Frauen aus komplett unterschiedlichen Umfeldern für zehn Tage zu der jeweils anderen, ganz unbekannten Familie. Zwei Frauen – zwei Welten. Also ein wenig kam ich mir auch vor wie in ’ner anderen Welt, als sich die erste von den beiden Zaubermäusen vorstellte. Nancy, knapp achtunddreissig und optisch die Mischung aus Angela Merkel und einem Bratapfel, wirkte schon am Anfang recht befremdlich auf mich, und das sollte sich während der Sendung sogar noch vertiefen. Eine praktizierende Vollblutchristin – ständig mit der Bibel im Gewand und dem Arbeitsplan für die sieben Blagen im Handgepäck. Und ständig irgend ein Requiem, das sie trällert. Das graue Haupthaar lustlos zu einem Zopf zusammengebunden liess der Rest ihres Anlitzes die Vermutung zu, dass Seife im Haus nur unnötiger Luxus ist. Einmal Warmwasser in der Woche reicht schliesslich vollkommen aus. Nicht besonders erwähnt werden muss, dass sie bei ihrer Kleiderwahl ähnlich ‚anspruchsvoll‘ ist. Willkommen im Mittelalter. Doris hingegen scheint da schon etwas weltoffener durch’s Leben zu schreiten, wenn auch ihre knapp vierzig Erdenjahre und fünf Sprösslinge nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind.

Tja, und da fand sich die heilige Nancy auf einmal in einem Clan von Ungläubigen wieder und wusste nicht recht, wo sie mit den Bekehrungsversuchen beginnen sollte. Die Karten, oder besser gesagt: die Bibel gleich bei der Ankunft auf den Tisch zu legen, war taktisch unklug aber geradezu bezeichnend und liess das befürchten, was folgen sollte. Die beiden schon fast erwachsenen Töchter waren über Nancy’s missionarische Unternehmungen nicht sonderlich erfreut und auch Doris‘ Mann zeigte sich ein wenig befremdlich, als die neue Hausgenossin gleich am ersten Tag in den Küchenschränken nach vergammelten Brotkrumen fahndete. Vielleicht hätte sie das Gefundene auch einfach wortlos entsorgen können, anstatt jedes Mal nach dem Hausherren zu krähen. Der nächste Aufhänger erschien nur kurze Zeit später in Form eines vollbepackten Bügelkorbes, der sogleich neu sortiert werden musste. Ehrlich gesagt, ich hatte ihr glatt zugetraut, dass sie überhaupt nicht bügelt, aber sie fand dann doch das ein und das andere Stück, was sie in bei näherer Betrachtung in Erwägung ziehen wollte, es dem Plätteisen unterzuschieben. Aber so ganz einig mit sich selbst war sie da auch noch nicht, so dass der Hausherr erneut zur Rate gezogen wurde. An dem Abend hat er den ganzen Korb Wäsche selbst gebügelt, aber immerhin hat er den Schauplatz unbeschadet und ohne grössere Diskussionen verlassen können. Ich beneidete ihn um seine Ruhe. Die Situation drohte schliesslich zu eskalieren, als sie am nächsten Tag im Bad-Eimer so ganz „zufällig“ Zigarettenstummel entdeckte und sich trotz intensiver Nachforschung kein Verursacher dieser Freveltat ermitteln liess. Und natürlich wurde der Herr des Hauses unter plärrendem Klagegesang zur Stelle und zur Verantwortung zitiert. Ich bewunderte wiederum den stahligen Geduldsfaden von Doris‘ Herzallerliebsten, denn ich hätte die Nachwuchsheilige spätestens an diesem Punkt auf den Scheiterhaufen gebunden.

Währenddessen machte sich Doris in ihrer neuen Familie beliebt. Den Schock vom Blick in den Kleiderschrank ihrer Tauschgenossin hatte sie überwunden, und am Abend gab’s Nudelauflauf anstatt Hirsebrei und das auch noch ohne lange Lobgesänge vorneweg. Für die Kid’s war’s ein Fest. Und am nächsten Tag zu Esprit, um etwas Farbe in die steingraue Altkleiderwelt der pubertierenden Teenager zu bringen. Ja, natürlich sponsern das die Fernsehfritzen, aber darum geht’s ja nicht. Etwas bunter ging’s jetzt auch in den Jugendzimmern zu – ein Stapel Bravo’s und andere einschlägige Zeitschriften, die bisher tabu waren, wurden ihrer Starposter beraubt, die von nun an die bis dahin fast kahlen Wände schmücken sollten. Schnell entwickelte sich ein inniges Verhältnis zwischen Doris und den Kids, die das neue Leben mit ihrer Leihmutter offensichtlich sehr genossen. Sie aßen und lachten und weinten zusammen. Doch die teilweise realitätsfremden Geflogenheiten in dieser anderen Welt machten ihr zu schaffen. Als sie den heiligen Arbeitsplan zerriss, der nach ihrer Meinung hart an der Grenze zur Versklavung der Pappenheimer lag, wurde Nancy’s Mann, der sich ansonsten am liebsten im Hintergrund aufzuhalten schien, ein wenig mürrisch. Immerhin sei der Plan mühevoll erarbeitet worden. Und ausserdem schlafe Nancy nach Mittag gerne immer etwas. Undundund. Ja nee, ist klar – fortwährender Minnegesang kann auf Dauer anstrengend werden, und wer schläft, sündigt schliesslich nicht.

Unsere Betschwester bewegte sich mittlerweile auf immer dünner werdendem Gefrorenem, und das nicht nur auf Schlittschuhen. Ein Familienausflug zur Eisbahn sollte retten, was zu retten ist, aber irgendwie konnte sie auch dort nicht wirklich punkten. Wenn Doris‘ Männe sich nicht an die Hand nehmen lassen will, dann will er eben nicht. Vor allem nicht, solange sie psalmensummend über’s Eis schwebt, als wäre gerade der heilige Geist in ihr eingekehrt. Erwähnte ich schon, dass ich ihn verstehen kann? Ich war allerdings überrascht, dass sie ’ne Jeans trägt, dazu noch eine gut sitzende, aber meine Couchnixe neben mir meinte nur, dass diese in Ausnahmesituationen auch vom Sender finanziert werden. Ach so. Die Situation wurde tatsächlich immer ausnahmeähnlicher; Nancy’s ständiges Trällern gottgefälliger Lobeshymnen konnte selbst den geduldigsten Zuschauer in den Wahnsinn treiben, insbesondere weil sie nun begonnen hatte, dazu im mittelalterlichen Reigen zu tanzen. Meiner Meinung nach musste Doris‘ Göttergatte, der das Spiel scheinbar in himmlischer Ruhe ertrug, innerlich kurz vor einem mittelschweren Nervenzusammenbruch stehen. Aber ich glaube, ich sagte bereits, dass ich ihn bewundere. Und der Nachwuchs begann sogar freiwillig mit dem Beten, dass diese Zeit schnell vorbei ginge. Nur einmal konnte sie uns fast ein wenig leid tun, wo ihre schon fast dämliche Fröhlichkeit urplötzlich in einer kleinen Trotzszene endete und sie damit drohte, das Haus vorzeitig zu verlassen. Keiner hat widersprochen, aber sie blieb trotzdem bis zum bitteren Ende.

Abschiedstränen gab’s dann eher auf der einen Seite, denn der Gedanke, dass die Supernannydoris jetzt wieder das Feld räumte, gefiel Nancy’s Kindern keineswegs, und noch weniger gefiel ihnen die Tatsache, dass die Poster nun in den Mülleimer wandern würden und anstelle von Mama Miracoli die Hirsebreifrau wieder den Kochtopf übernehmen wird. Aber man würde sich auf jeden Fall wieder sehen. Auf der anderen Seite hingegen fiel der Abschied erwartungsgemäss etwas weniger spektakulär aus und die Zurückgebliebenen ertrugen die Umarmung ob der Gewissheit, dass nun wirklich alles vorbei ist, tapfer. „Ach, das war klar – unrasierte Achselhöhlen “ Die Bemerkung konnte sich die Coucheline neben mir dann doch nicht verkneifen, und mir war auf einmal so, als verspürte ich einen leicht iltisartigen Geruch, der aus dem Fernsehen zu kommen schien. Und tschüss – Doris‘ Mann sog genüsslich an der ersten Zigarette seit Tagen, als der Wagen mit Nancy um die Ecke verschwand.

Und dann folgte ja noch das Finale. Auf einer Autobahnraststätte, als sich die beiden Austauschmuttis dann zum ersten und wohl auch zum letzten Mal begegneten. Auge in Auge, von Frau zu Frau und von Welt zu Welt. Dass es dabei nicht zu schwerwiegenden tätlichen Auseinandersetzungen kam, ist wohl grösstenteils der Anwesenheit der Kameras zu verdanken. Doris tobte, während Nancy beseelt singend vom Parkett schwebte. Das war er also, der Frauentausch. Zwei Frauen – zwei Welten.

„Eigentlich sind Menschen wie Nancy zu bewundern.“ Meine Couchhäsin richtete sich auf und räkelte sich verführerisch. „Sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt, haben ’ne Familie und einen unbeirrbaren Glauben und lösen Probleme mit einem Liedchen. Und ich werde so langsam müde.“

„tralalalala“ erwiderte ich daraufhin nur.

Draussen auf der Strasse zündete ich mir ein Zigarillo an und liess den Rauch genussvoll durch Lunge und Nasenlöcher ziehen. Und ich musste schmunzeln. Wer ist eigentlich Gott? Und wenn’s ihn gibt, hätte er dann nicht die Kiste ausgeknipst und uns vögeln lassen?

Ach… tralalalala…

. . .

Frau Schimanski

Rrrrrrrrrrrring…

Es war das eindringliche Läuten des Telefons, das mich jäh aus meiner lethargischen Schweigeminute kurz nach der Tagesschau riss.

Bewaffnet mit ein paar übrig gebliebenen Salzkräckern vom Wochenende und einer Flasche Cabernet hatte ich mich gerade auf die Couch gelümmelt und suchte nach der Fernbedienung, da mein TV meistens kalt bleibt und die Funktastatur offensichtlich aus Langeweile ein Eigenleben entwickelt hat.

„Wer stört?“ maulte ich in den Hörer, während ich die Sofakissen nach der verschwundenen Flitsche durchforstete.

„Steinhaus hier, guten Abend.“

„Guten Abend Frau Steinhaus, ich wollte gera…“

„Ich störe hoffentlich nicht, ich kann auch gerne morgen noch mal anrufen, obwohl… es wird nicht lange dauern, denke ich…“

Soso – denkt sie das also. Da denke ich allerdings ganz anders. Frau Steinhaus ist meine Nachbarin und darüber hinaus eine allein stehende Frau in den Mittfünfzigern. Ihr Mann war „nur mal Zigaretten holen.“ – Das ist jetzt allerdings fast drei Jahre her und mittlerweile hat sie die Hoffnung aufgegeben, dass er den Weg nach hause allein zurückfinden wird. Vom Typ her erinnert sie mich ein wenig an die weißgekittelten Schlusen, die einem an der Eingangstür bei ‚Douglas‘ mit Zahnpastalächeln und drei Flakons gefüllt mit hochprozentigen Duftstoffen entgegenstürzen. Die Haare wasserstoffblond gefärbt und eine Haut wie ein sonnenbankgeschädigtes Albinokaninchen – immerhin hat sie es in den letzten zwei Jahren geschafft, ihre Kleidergrösse auf achtundreissig herunterzuhungern.

„Na ja, eigentlich wollte ich gera…“

„Oder ich kann auch mal schnell vorbeikommen, es dauert auch nicht la…“

„Neiiiiiiiiiiiiiiiin… ääh, ich meinte, ich komme gerade aus der Dusche.“

Und das stimmte sogar, nur dass der eigentliche Grund in wenigen Minuten beginnen würde und ich diese verflixte Fernbedienung immer noch nicht gefunden hatte. Ein Tatort mit Schimmi, wenn auch in der neunten Wiederholung, ist für mich immer noch der beste Grund, meinen Fernseher mal wieder zu entstauben.

„Dann erzähl‘ ich’s Ihnen kurz am Telefon, es ist nämlich…“

„Hab‘ sie!!!“

„Was haben Sie?“

„Na, die Fernbedienung!“ Beseelt angelte ich das verwunschene Teil unter der Couch hervor.

„Ach so, Sie wollten sicher Fernsehen gucken. Was läuft denn schönes?“

„Schimanski im Dritten.“

„Den hab‘ ich ja auch immer gerne gesehen. Also spannend bis zur letzten Minute. Und dann dieser Kommissar. Wie hieß er noch gleich? Georg oder George oder so?!“

„George! Götz George!“

„Genau. Sag‘ ich doch. Also so ein hübsches Kerlchen. Für sein Alter…“

Ich grummele leise vor mich hin. Ja, da hat sie ja nicht unrecht. Auf das Kerlchen kann man fast ’n bisschen neidig sein. Die wohldosierte Mischung zwischen Macho und Weichei – sozusagen die coolste Sau, seit es Tatort gibt.

„Na ja, aber privat soll er ’n Arschloch sein…“ log ich in den Telefonhörer.

„Was passiert denn da jetzt?“

Bitte jetzt nicht das! Ich kenne die Folge zwar in- und auswändig, verspürte aber nicht die geringste Lust dazu, eine ausführliche Inhaltsangabe vortragen zu müssen.

„Ach, wie immer: ‚Ne Bande Waffenschieber macht den Ruhrpott unsicher und bei den Bullen gibt’s ’ne undichte Stelle. Zwei Morde und ein leerer Geldkoffer. Aber am Ende wird alles gut.“

„Schön, also ich muss Ihnen was erzählen. Der Alte von nebenan hat ’nen neuen Zaun gebaut. So was von hässlich und viel zu hoch. Sie arbeiten doch bei Gericht, kann man da nix machen?“

Hääää? Also ehrlich, und ich dachte, sie hätte ernsthaft meinen Ausführungen zum heutigen Tatort gelauscht. Und jetzt der Alte? Mit dem Alten meint sie übrigens den pensionierten Postbeamten, der sich ihre Nachbarschaft mit mir teilt. Ein langweiliger Gnom mit fleischfarbiger Badekappe, langweiliger Ehefrau und noch langweiligeren Hobbys. Eines davon ist wohl das Errichten von Gartenzäunen, denn mir war es gestern abend auch aufgefallen, dass er ein neues, drei Meter hohes Prachtexemplar erbaut hatte.

„Mmmmh, es gibt schönere Zäune. Aber ob man da was gegen machen kann…?“

„Haben sie ihn eigentlich schon?“

„Wen?“

„Na, die undichte Stelle bei der Polizei!“

Ach ja, ich hätte es fast vergessen: Frauen können ja im Gegensatz zu Männern auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig kommunizieren. Sie beginnen ein Thema, schalten sogleich und ohne Vorwarnung auf ein vollkommen neues und kehren im Schlussakkord zum ersten zurück, dem sie sicherheitshalber noch ein paar neue Aspekte hinzugefügt haben.

„Nee, aber Schimmi ist knapp davor: Ihm fehlt nur noch der endgültige Beweis. Und jetzt muss er verdeckt ermitteln, damit er nicht auffliegt.“

„Ist das die Stelle, wo er sich als Penner verkleidet hat?“

„Die war schon.“

„Schade.“

Kein einziges Mal in diesem Tatort hat Schimmi sich als Penner verkleidet, aber ich wollte jetzt auch nicht anfangen zu diskutieren.

„Das ist die Stelle, wo der Alte ääääh Schimmi Leute bis über die Grenze nach Holland verfolgen muss.“

Die Alte äääh Frau Steinhaus machte mich langsam etwas kirre. Die erste halbe Krimistunde war bereits verstrichen und ich hatte so gut wie nichts richtig mitbekommen.

„Sagen sie mal, darf der denn so einfach über die Grenze?“

„Ja klar, das nennt man grenzüberschreitende Ermittlungen. Der darf das.“

„Nein, ich meine, ich habe eben mal nachgemessen. Der Zaun steht nicht genau auf der Grenze. Ein Teil ist auf meinem Grundstück.“

Ich nahm mir fest vor, vor dem nächsten Tatort das Telefonkabel aus der Wand zu ziehen.

„Wie viel ist es denn?“

„Mindestens zwei Zentimeter. Aber sagen sie doch mal, das ist doch verboten, oder?“

Schimmi war mittlerweile wieder wohlbehalten nach Duisburg zurückgekehrt und lieferte sich gerade eine wilde Verfolgungsjagd im Hafen.

„Gleich hat er ihn – an der nächsten Ecke schneidet er ihm den Weg ab. Ääääh, da läuft jetzt gerade die Verfolgungsjagd im Duisburger Hafen. Sorry, wie war das? Ja, das ist verboten. Und jetzt?“

„Also das Verfolgungsjagden im Hafen nicht erlaubt sind, darauf wäre ich auch gekommen. Ist der Verräter denn schon enttarnt?“

„Schon seit mehr als ’ner halben Stunde. Schimmi steht kurz vor dem Abschluss.“

„Soll ich ihn verklagen?“

„Schimmi???“

„Nein, den Alten!“

„Weswegen?“

„Na wegen des Zaunes.“

„Ähm, welcher Zaun? Ach so… wegen der paar Zentimeter…? Vielleicht können Sie ja ’nen deal machen: der Zaun bleibt so, wie er ist, aber dafür wirft er diese dämlich grinsenden Zwerge aus seinem Vorgarten direkt in den Duisburger Hafen.“

„Wohin?“

„Ähm, ich meinte: auf’n Müll.“

„Was war übrigens in dem Koffer?“

„Was? Welcher Koffer?“

„Na, der Geldkoffer.“

Mir war jetzt irgendwie danach, den Koffer mit meiner Nachbarin zu füllen und diesen im Duisburger Hafen zu versenken.

„Der war leer. Nichts drin. Ohne Inhalt. Capisci?“

„Und Sie glauben, der würde sich auf diesen deal einlassen?“

„Was? Mit leerem Koffer?“

„Nein, mit den Gartenzwergen!“

„Dafür muss er ja den Zaun nicht abreissen. Es käme auf einen Versuch an, und wenn Sie ’nen guten Tag erwischen… wer weiss?!

„Ich treff‘ seine Frau ja schon mal beim Bridgeabend. Vielleicht kann sie ihn ja überreden?! Gibt’s schon Tote?“

„Ja, zwei Stück, beide männlich und so was von tot.“ – Und gleich gibt’s die dritte Leiche, grummelte ich vor mich hin.

„Und wer war der Mörder?“

„Der Alte.“

„Was?“

„Ähm, nein, ein Profikiller, der für die Schieberbande arbeitete. Und der ist jetzt auf der Flucht.“

„Ich glaube, dass ist ’ne gute Idee.“

„Bitte…?“

„Da könnte ich sie gleich mal fragen… Wissen Sie, sein Pflaumenbaum hängt doch halb auf meinem Grundstück, und das ist ja vielleicht ’ne Sauerei, wenn die Früchte auf dem Rasen verfaulen.“

„Ja, aber vielleicht stockt er dann den Zaun auf, damit keine Äste mehr herüber wachsen können?“

Ich musste mir gerade vorstellen, wie Frau Steinhaus beim Einsammeln der verfaulten Nachbarspflaumen von einem drei Meter hohen Zaun erschlagen wird. Irgendwo hatte ich doch noch eine Motorsäge…

„Haben sie den Mörder schon?“

„Ja, der ist allerdings schon wieder auf Bewährung draussen und der Geldkoffer vergammelt im Archiv.“

„Ist der Film etwa schon zu Ende?“

Ich flötete nur ein leises „Ja“ in den Äther, obwohl mir in diesem Moment vieles durch den Kopf ging, ich aber das gute nachbarschaftliche Verhältnis nicht trüben wollte.

„Ich muss mir das ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen. Andererseits hab‘ ich durch den Zaun im Sommer auf der Wiese ein wenig Schatten, dann brauche ich den Schirm nicht aufstellen und…“

„Schlafen Sie drüber!“

„Danke für den Rat. Gute Nacht, Herr Kommissar.“

„Gute Nacht, Frau Schimanski.“

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Rudelgucken

Spätestens dann, wenn der Sportteil der Tageszeitung den Umfang eines Bestsellerromans erreicht hat, der Nachbar sein Auto mit der nationalen Flagge schmückt und den Grill auf Hochglanz poliert, regiert im Lande wieder einmal die unangefochtene Nummer eins des Sportadels: König Fussball.

Weder Kosten noch Mühen werden gescheut, um der sabbernden Fangemeinde die wenigen und kostbaren Tage des aristokratischen Sportereignisses so angenehm wie möglich zu gestalten. Adel verpflichtet. Die Fernsehanstalten buhlen mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht um die Übertragungsrechte der besten Spiele und damit um die Gunst der Zuschauer und so manche Sportmumie aus vorsinflutlichen Zeiten wird aus der finstersten Kellerecke hervorgekramt, um die Helden von heute mit mehr oder weniger qualifizierten Bemerkungen zu zensieren. Schön staubig – staubig schön.

Grillkohle, Nackensteaks und Kartoffelsalat feiern jetzt Hochsaison, und besagter Nachbar versichert mir, dass sein Vorrat an Thüringer Grillern bis zum Endspiel reichen wird – mindestens! Und gegen das Fußballfieber helfe am besten „viel trinken“, noch besser „ganz viel trinken“, am besten besorge man also gleich einige Fässchen von der besagten Wundermedizin. Und sicherheitshalber drei Kästen auf Reserve, damit man sich nicht später an der Tanke um den letzten Sixpack prügeln muss. Und und und… Hauptsache, es bleibt sport-feucht-fröhlich.

Doch seit der letzten Weltmeisterschaft schwebt ein neuer Trend über der Fußballfangemeinde, das „Public Viewing“. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das gemeinschaftliche Mitverfolgen vieler Zuschauer von live übertragenen, medialen Großereignissen auf Großbildwänden an öffentlichen Standorten; wörtlich übersetzt bedeutet es „Öffentliches Anschauen“. Igitt – wie schamlos. Dabei ist der vor zwei Jahren eingedeutschte Begriff nur eine denkbar schlechte Bezeichnung für etwas gar nicht so neues. Das Phänomen trat nämlich schon 1954 auf, als sich die Menschen von den wenigen Fernsehgeräten in den Schaufenstern der Warenhäuser und Kneipen versammelten, um in kollektiven Ballrausch zu verfallen.

Da hat sich also in den Jahren nicht viel geändert, außer dass die Fernsehgeräte mittlerweile zu Großbildwänden mutiert sind. Und dass sie jetzt nicht mehr Fernsehgeräte heißen, sondern „TV’s“, der Kartenvorverkauf zum „Ticketing“ umgetauft wurde, die freiwilligen Helfer als „Volunteers“ herumwuseln und die Reichen und Schönen in der „Hospility Zone“ Unterschlupf finden. Manche Marketing-Ausdrücke wirken wohl eher belustigend als informativ. „City dressing“ – das klingt mehr wie eine Salatsosse als nach dem Ausdruck für das Beflaggen einer Stadt. Aber egal, zur EM wird eben „Denglish“ gesprochen. Und jetzt noch das „Public Viewing“ – schon wieder so ein Anglizismus. In Amerika wird dieses Wort für die Aufbahrung von Toten benutzt – sicherlich ein guter Grund sich zu fragen, ob es denn nicht ein passenderes Wort für dieses Massenphänomen gibt. Bei einer landesweiten Umfrage eines bekannten Radiosenders wurde die beste Wortalternative für „Public Viewing“ gesucht und gefunden: Rudelgucken.

Rudelgucken – das klingt nicht nur schön deutsch, sondern lässt uns darüber hinaus noch in alten Jugendzeiten von Hordensaufen und Kollektivkotzen schwelgen. Zugleich weckt es einen der ältesten Urinstinkte des Menschen: das Bilden einer Gemeinschaft zwecks gemeinsamer Ziele. War es in frühen und frostigen Zeiten noch der nackte Überlebenswillen, der unsere Vorfahren am Lagerfeuer aneinanderrücken ließ, rotten sich die Menschen heutzutage aus anderen Beweggründen zusammen. Dabei gehen die Fussballfans unter ihnen nicht nur eine schon beinahe metaphysische Verbindung untereinander ein, sondern auch mit ihrem Land nebst dem dazugehörigen Team.

Kein Michael Ballack, kein Miroslav Klose und auch kein Jens Lehmann gewinnt das Spiel allein – sie alle brauchen ein Team, um ihr Ziel zu erreichen. Wir auch, und wie könnte Gemeinschaftssinn und Vaterlandstreue besser zum Ausdruck gebracht werden als mit Deutschlandfahne bewaffnet und einskommafünf Promille im Blut im Sturm auf die Fußballbastille zu blasen. Sozusagen im kollektiven Rudelrausch.

Dass der reibungslose Biernachschub dabei wichtiger ist als der fein gespielte Doppelpass – wen interessiert das schon? Denn derjenige, für den Fußball „nur“ ein Spiel ist, ist beim Rudelgucken bestens aufgehoben.

Alles Fußball oder was…?

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Platzgeschichten

Volksfeste sind eigentlich gar nicht mein Ding, erinnern sie mich doch meist an die regionalen Schützentreffen in der unteren Sackeifel – nur mit dem Unterschied, dass die grünweissgestreiften Brüder zwar ihre Uniformen zuhause lassen, dafür aber ihre gesamte Sippschaft mitbringen. Während Oma am Karussell geduldig wartet, bis die Blagen zehn Chips lang im Kreis gefahren sind, steuert Papa schon schweissdurchtränkt die nächste Bölkbude an. Und Mutter bugsiert fünf Bratwürste durch die Menschenmenge und sucht die ganze Bagage. Vorsicht – heiss und fettig. Und laut und schrill. Und überhaupt. Wehe, wenn sie losgelassen…

Einmal im Jahr breche ich mein Gelübde. Genaugenommen in der letzten Juliwoche, wenn in der Stadt die Annakirmes stattfindet, werde ich zappelig. Eine ganze Woche lang liegt Düren im Rummelfieber und für so manchen Einheimischen gehören diese hohen Feiertage höher gefeiert als Weihnachten und Ostern zusammen. Hier trifft man sich. Zumindest, wenn man dazugehört oder dazugehören möchte. Und zwischen Geisterbahn und Backfischbude trifft man immer auf den ein oder anderen, den man sonst fast das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekommt. Die ersten sichtet man meist schon am Bierbüdchen wenige Schritte hinter dem Haupteingang und manche von ihnen sieht man an der gleichen Stelle ein paar Stunden später wieder.

Der Dürener Aborigine beginnt seine Tour für gewöhnlich am Bitburger (das ist das besagte Büdchen gleich am Haupteingang), geht dann über Warsteiner und Köstritzer bis zum Paulaner, um dann irgendwann am Bitburger von vorhin zu enden. Und dazwischen noch fünf Mühlenkölsch vom Fass, fünfzig Zentimeter Thüringer Rostbratwurst vom Gasgrill und drei Reibekuchen mit Apfelmus. Sozusagen eine rustikale Schlemmerreise durch die grossdeutschen Lande zusammengepfercht in knapp fünf jubeltrubelheiteren Stunden.

Dabei kann die Annakirmes auf eine lange Tradition zurückblicken. Der Krimi begann schon Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Aachener Steinmetz in Mainz ein Stückchen Schädeldecke einer bis dato Unbekannten mopste und selbiges bei den Franziskanern in Düren deponierte. So unbekannt schien diese allerdings doch nicht zu sein, da sich kurz darauf eine Mainzer Delegation in Bewegung setzte, um ihr geliebtes Requiem zurück in die Heimat zu holen. Dies hätten sie auch fast geschafft, wäre da nicht der Dürener Stadtrat gewesen. Was einmal in Düren ist, bleibt auch dort, und so reisten die Mainzer dann unverrichteter Dinge und mit leeren Händen wieder ab. Die Sache ging vor Gericht und letztendlich musste die päpstliche Gewalt entscheiden. Der heilige Stuhl entschied sich für Düren, was der Stadt nicht nur die Annakirche bescherte. Wallfahrten waren damals schwer in Mode und so pilgerten kurze Zeit später bereits Tausende in die kleine Stadt an der Rur. Mitte des 17. Jahrhunderts gesellte sich zum Gedenktag ein Markt um die Kirche – damals noch ohne Achterbahn, Höllenblitz oder sonstigen adrenalinerhöhenden Karussellattraktionen. Aber das gastronomische Geschäft blühte damals schon und so wurde der Annamarkt im Laufe der Jahre erst auf drei und dann sogar auf acht Tage erweitert.

Heute darf satte neun Tage lang mehr oder weniger durchgefeiert werden. Die ganz harten nehmen sich in dieser Zeit Urlaub und verbringen diesen dann auch grösstenteils auf dem Festplatz. An den Insidertreffpunkten, also den besagten Bölkbuden wird gezapft, gelacht, gequasselt, geguckt, gebaggert und eben gebölkt, gleich nebenan frittiert, gebacken, gegrillt, geschmatzt, genossen und gerülpst. Und zwischendurch schlangegestanden vor den Toilettenwagen. Ganz schlaue von auswärts schlagen sich in die nahegelegenen Büsche des Rurufers, die die Einheimischentrupps ausschliesslich nur zum Kollektivkotzen nach der einminütigen Cyber-Space-Tour aufsuchen. Tja, wer die Regeln nicht kennt, tritt irgendwann nicht nur in die Scheisse.

Dienstags ist Familientag und die meisten Fahrgeschäfte senken ihre sowieso schon überhöhten Preise auf ein bezahlbares Level. Leider bevölkern dann auch Scharen von Kinderwagen die Szene. Wer nicht gerade masochistisch veranlagt ist und keine blaugrünen Hacken mag, hält sich bis zum späteren Abend besser dort fern. Oder geht gleich donnerstags zum Gruppeninvasionstag, wenn Vereins-, Arbeits- und sonstige Kameraden in Herden zusammengerottet zum Sturm auf die Kirmesbastille blasen. Und wer dann noch nicht genug hat, lässt sich am Freitag vom grossen Brilliantfeuerwerk der Schausteller bespassen. Eintritt frei – die Sicht leider meistens nicht, und derjenige, der das Feuerspiel am abendlichen Provinzhimmel brilliant und vor allem ohne Sichtstörung geniessen möchte, schmeisst sich mit Sitzpolster und Sixpack bewaffnet auf eine der nahegelegenen Parkwiesen.

Mittlerweile pilgern jährlich weit mehr als eine Million Menschen zum Annafest und seit mehr als dreissig Jahren wird die Weltmeisterschaft im Kirsch-Kern-Weitspucken hier ausgetragen. Die Stadt kassierte in diesem Jahr stolze Eins-Komma-Zwei Millionen Euro Platzmiete von den Schaustellern, die sich um die Gunst eines Standplatzes geradezu zerfleischen. Schon der kleine Stand, wo man mit magnetischen Angeln kleine gelbe Plastikenten fischen kann, die lustig im Wasserbad herumflitzen, bezahlt fünfzehn Mille, um mit dabei sein zu dürfen. Da wunderts doch niemanden, dass man für einen nicht mal zweiminütigen Cyber-Space-Höllentrip in luftiger Höhe gleich um sieben Euro ärmer wird. Durch die Preise für ein frisch gezapftes steigt eh kein Mensch mehr, weil geschickterweise die Grösse der Behältnisse unterschiedlich gewählt werden. Bei Einsdreissig für’s Nullzweier beginnt der Spass, wenn auch die Krone etwas üppiger als gewohnt ausfällt. Am Stand gegenüber kostet der begehrte Saft dann schon glatte zwei Euro, dafür ist das Glas auch grösser und ausserdem bis weit über die Eichmarke gefüllt.

Nehmen wir mal die deutsche Durchschnittsfamilie, die am Sonntagnachmittag drei Stündchen über den Platz schlurft: Zwei Blagen unterschiedlichen Geschlechts, eines im Kindergartenalter, das andere hat sich mal gerade eben ins dritte Schuljahr gerettet; Papa fährt tagsüber Tiefkühllaster für Bofrost und Mutter bringt zweimal pro Woche die Nachbarwohnung auf Hochglanz. Da ist ein Fuffi viel Geld und mehr als schnell aufgebraucht, und darin ist weder Papa’s Fahrt mit der Alpina-Achterbahn noch die grosse Tüte frisch gebrannter Mandeln für die wartende Oma daheim enthalten. Einmal Geisterbahn für alle, Mutter darf mal auf’s Riesenrad und für die Kids gibts ’n Fünferabo mit dem Kinderkarussell. Anschliessend zehn Lose und den Griff in die Trostpreiskiste. Und dann noch Pommes und Zuckerwatte und Schlumpfeis. Und drei Helle für Papa, während er im Schatten diverser Bierbudensonnenschirme auf den Rest der Sippe warten muss. Den letzten Euro bekommt noch die Toilettenfrau – für Mutters schwache Blase und fürs Aufwischen von Sohnemanns plötzlich wieder zum Vorschein gekommen Pommes mit extraviel Mayo. Schliesslich will jeder an dem grossen Festplatzbraten mitmampfen.

Knapp fünfunddreissig Euro kosteten mich fünf volle Stunden Jahrmarktfreuden. Dafür gabs einen halben Meter Thüringer vom Gasgrill zu vier Euronen, drei Reibkuchen (mit Apfelmus!) für Zweifuffzig und die letzten drei Euro schluckte die Karussellfahrt mit dem überfüllten Sonderbus bis nach hause. Der ‚Rest‘ war schon fast vollständig verdunstet oder in der Kanalisation verschwunden.

Aber schön wars. Und vielleicht nehm ich nächstes Jahr Ende Juli sicherheitshalber mal ’ne Woche Urlaub…

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