Frauentausch

„Ich bin ab halb neun zuhause, komm‘ doch noch vorbei, wenn du magst.“

Ja, warum eigentlich nicht. So herrlich spontan, wie ich das mag. Und nur zehn Minuten bis zu ihrer Wohnung. Ich frage mich, wonach mir der Sinn steht. Zu erzählen hätte ich genug. Viel ist passiert in den letzten Wochen, aber nur wenig, was sie interessieren darf. Vielleicht möchte ich mich auch einfach nur anlehnen und meine Klappe halten. Vielleicht ein paar Streicheleinheiten geniessen. Vielleicht auch vögeln. Und vielleicht wird irgendetwas von alldem sogar passieren, sollten unsere Sinne sich denn irgendwo in der Mitte treffen.

Wir haben noch keine Namen füreinander. Bekannte, Freunde, Kumpel/-ine – das alles scheint nicht recht zu passen. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Wir stehen an einer Stelle, wo noch alles werden kann. Oder auch gar nichts. Aber keine sich fixierenden Ideale, auf die man blind losrennt. Eher ein wachsames Umschleichen, was jetzt schon einige Wochen anhält. Und das auch nicht regelmässig. Mal zusammen abgefeiert, mal gemeinsam abgetaucht, mal gegenseitig angezickt , mal so und mal so. Und so einfach. Kein Muss dahinter, nicht mal ein Soll. Nur ein Kann.

Immerhin brannten Kerzen im Wohnzimmer, wenn auch der Fernseher im Hintergrund lief und nicht ganz zu der restlichen Atmosphäre passte. Aber es störte mich nicht einmal. Im Gegenteil, vielleicht war gerade er für die gewohnte Ungezwungenheit verantwortlich, die ich in ihrer Gegenwart empfinde. Unsere Sinne trafen sich in einer angeregten Unterhaltung über ihre letzten Tage oder, besser gesagt, sie redete und ich hörte zu. Ihre Jobsuche gestaltet sich doch schwieriger als zunächst erwartet. Wieder zwei Absagen. An Urlaub nicht zu denken und die Wohnung muss auch dringend renoviert werden.

Ich war froh darüber, selbst nicht viel reden zu müssen. Je mehr sie erzählte, desto mehr rückten meine eigenen Probleme von mir ab. Nur das Stechen in der Magengegend seit Montag und die Tatsache, am Ende doch nicht das bekommen zu haben, was ich mir gewünscht hatte. Es war nicht mehr als ein Traum, der mir zuflog, zwei Wochen verweilte und sodann wieder im Himmel verschwand. Zu kurz, um dem wirklich eine Bedeutung zuzumessen, aber gerade ausreichend, um für den Augenblick den Boden unter den Füssen zu verlieren. Jung und makellos und anders war sie. Wenn ich sie jetzt bloss nicht als Massstab vor Augen hätte… das macht mir ein wenig Angst.

„Ach, jetzt kommt ja ‚Frauentausch‘. Kennst du das?“
Meine Couchnachbarin angelte sich eine Zigarette und liess sich gemütlich in die Kissen fallen. Das einzige, was mir in dem Zusammenhang einfiel, waren Frauen, die untereinander Zigaretten und Deo und dergleichen tauschten – dies allerdings gut weggeschlossen und ohne Bewährung.
„Das war ‚Frauenknast‘. Beim ‚Frauentausch‘ wechseln zwei Frauen für eine Zeit die Familie.“
Ach, dachte ich, wieder ’ne neue Doku-Soap, die die Welt nicht braucht. Ich weiss schon, warum mein TV meistens kalt bleibt.

Frauentausch – In jeder Folge dieser Doku-Soap ziehen zwei Frauen aus komplett unterschiedlichen Umfeldern für zehn Tage zu der jeweils anderen, ganz unbekannten Familie. Zwei Frauen – zwei Welten. Also ein wenig kam ich mir auch vor wie in ’ner anderen Welt, als sich die erste von den beiden Zaubermäusen vorstellte. Nancy, knapp achtunddreissig und optisch die Mischung aus Angela Merkel und einem Bratapfel, wirkte schon am Anfang recht befremdlich auf mich, und das sollte sich während der Sendung sogar noch vertiefen. Eine praktizierende Vollblutchristin – ständig mit der Bibel im Gewand und dem Arbeitsplan für die sieben Blagen im Handgepäck. Und ständig irgend ein Requiem, das sie trällert. Das graue Haupthaar lustlos zu einem Zopf zusammengebunden liess der Rest ihres Anlitzes die Vermutung zu, dass Seife im Haus nur unnötiger Luxus ist. Einmal Warmwasser in der Woche reicht schliesslich vollkommen aus. Nicht besonders erwähnt werden muss, dass sie bei ihrer Kleiderwahl ähnlich ‚anspruchsvoll‘ ist. Willkommen im Mittelalter. Doris hingegen scheint da schon etwas weltoffener durch’s Leben zu schreiten, wenn auch ihre knapp vierzig Erdenjahre und fünf Sprösslinge nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind.

Tja, und da fand sich die heilige Nancy auf einmal in einem Clan von Ungläubigen wieder und wusste nicht recht, wo sie mit den Bekehrungsversuchen beginnen sollte. Die Karten, oder besser gesagt: die Bibel gleich bei der Ankunft auf den Tisch zu legen, war taktisch unklug aber geradezu bezeichnend und liess das befürchten, was folgen sollte. Die beiden schon fast erwachsenen Töchter waren über Nancy’s missionarische Unternehmungen nicht sonderlich erfreut und auch Doris‘ Mann zeigte sich ein wenig befremdlich, als die neue Hausgenossin gleich am ersten Tag in den Küchenschränken nach vergammelten Brotkrumen fahndete. Vielleicht hätte sie das Gefundene auch einfach wortlos entsorgen können, anstatt jedes Mal nach dem Hausherren zu krähen. Der nächste Aufhänger erschien nur kurze Zeit später in Form eines vollbepackten Bügelkorbes, der sogleich neu sortiert werden musste. Ehrlich gesagt, ich hatte ihr glatt zugetraut, dass sie überhaupt nicht bügelt, aber sie fand dann doch das ein und das andere Stück, was sie in bei näherer Betrachtung in Erwägung ziehen wollte, es dem Plätteisen unterzuschieben. Aber so ganz einig mit sich selbst war sie da auch noch nicht, so dass der Hausherr erneut zur Rate gezogen wurde. An dem Abend hat er den ganzen Korb Wäsche selbst gebügelt, aber immerhin hat er den Schauplatz unbeschadet und ohne grössere Diskussionen verlassen können. Ich beneidete ihn um seine Ruhe. Die Situation drohte schliesslich zu eskalieren, als sie am nächsten Tag im Bad-Eimer so ganz „zufällig“ Zigarettenstummel entdeckte und sich trotz intensiver Nachforschung kein Verursacher dieser Freveltat ermitteln liess. Und natürlich wurde der Herr des Hauses unter plärrendem Klagegesang zur Stelle und zur Verantwortung zitiert. Ich bewunderte wiederum den stahligen Geduldsfaden von Doris‘ Herzallerliebsten, denn ich hätte die Nachwuchsheilige spätestens an diesem Punkt auf den Scheiterhaufen gebunden.

Währenddessen machte sich Doris in ihrer neuen Familie beliebt. Den Schock vom Blick in den Kleiderschrank ihrer Tauschgenossin hatte sie überwunden, und am Abend gab’s Nudelauflauf anstatt Hirsebrei und das auch noch ohne lange Lobgesänge vorneweg. Für die Kid’s war’s ein Fest. Und am nächsten Tag zu Esprit, um etwas Farbe in die steingraue Altkleiderwelt der pubertierenden Teenager zu bringen. Ja, natürlich sponsern das die Fernsehfritzen, aber darum geht’s ja nicht. Etwas bunter ging’s jetzt auch in den Jugendzimmern zu – ein Stapel Bravo’s und andere einschlägige Zeitschriften, die bisher tabu waren, wurden ihrer Starposter beraubt, die von nun an die bis dahin fast kahlen Wände schmücken sollten. Schnell entwickelte sich ein inniges Verhältnis zwischen Doris und den Kids, die das neue Leben mit ihrer Leihmutter offensichtlich sehr genossen. Sie aßen und lachten und weinten zusammen. Doch die teilweise realitätsfremden Geflogenheiten in dieser anderen Welt machten ihr zu schaffen. Als sie den heiligen Arbeitsplan zerriss, der nach ihrer Meinung hart an der Grenze zur Versklavung der Pappenheimer lag, wurde Nancy’s Mann, der sich ansonsten am liebsten im Hintergrund aufzuhalten schien, ein wenig mürrisch. Immerhin sei der Plan mühevoll erarbeitet worden. Und ausserdem schlafe Nancy nach Mittag gerne immer etwas. Undundund. Ja nee, ist klar – fortwährender Minnegesang kann auf Dauer anstrengend werden, und wer schläft, sündigt schliesslich nicht.

Unsere Betschwester bewegte sich mittlerweile auf immer dünner werdendem Gefrorenem, und das nicht nur auf Schlittschuhen. Ein Familienausflug zur Eisbahn sollte retten, was zu retten ist, aber irgendwie konnte sie auch dort nicht wirklich punkten. Wenn Doris‘ Männe sich nicht an die Hand nehmen lassen will, dann will er eben nicht. Vor allem nicht, solange sie psalmensummend über’s Eis schwebt, als wäre gerade der heilige Geist in ihr eingekehrt. Erwähnte ich schon, dass ich ihn verstehen kann? Ich war allerdings überrascht, dass sie ’ne Jeans trägt, dazu noch eine gut sitzende, aber meine Couchnixe neben mir meinte nur, dass diese in Ausnahmesituationen auch vom Sender finanziert werden. Ach so. Die Situation wurde tatsächlich immer ausnahmeähnlicher; Nancy’s ständiges Trällern gottgefälliger Lobeshymnen konnte selbst den geduldigsten Zuschauer in den Wahnsinn treiben, insbesondere weil sie nun begonnen hatte, dazu im mittelalterlichen Reigen zu tanzen. Meiner Meinung nach musste Doris‘ Göttergatte, der das Spiel scheinbar in himmlischer Ruhe ertrug, innerlich kurz vor einem mittelschweren Nervenzusammenbruch stehen. Aber ich glaube, ich sagte bereits, dass ich ihn bewundere. Und der Nachwuchs begann sogar freiwillig mit dem Beten, dass diese Zeit schnell vorbei ginge. Nur einmal konnte sie uns fast ein wenig leid tun, wo ihre schon fast dämliche Fröhlichkeit urplötzlich in einer kleinen Trotzszene endete und sie damit drohte, das Haus vorzeitig zu verlassen. Keiner hat widersprochen, aber sie blieb trotzdem bis zum bitteren Ende.

Abschiedstränen gab’s dann eher auf der einen Seite, denn der Gedanke, dass die Supernannydoris jetzt wieder das Feld räumte, gefiel Nancy’s Kindern keineswegs, und noch weniger gefiel ihnen die Tatsache, dass die Poster nun in den Mülleimer wandern würden und anstelle von Mama Miracoli die Hirsebreifrau wieder den Kochtopf übernehmen wird. Aber man würde sich auf jeden Fall wieder sehen. Auf der anderen Seite hingegen fiel der Abschied erwartungsgemäss etwas weniger spektakulär aus und die Zurückgebliebenen ertrugen die Umarmung ob der Gewissheit, dass nun wirklich alles vorbei ist, tapfer. „Ach, das war klar – unrasierte Achselhöhlen “ Die Bemerkung konnte sich die Coucheline neben mir dann doch nicht verkneifen, und mir war auf einmal so, als verspürte ich einen leicht iltisartigen Geruch, der aus dem Fernsehen zu kommen schien. Und tschüss – Doris‘ Mann sog genüsslich an der ersten Zigarette seit Tagen, als der Wagen mit Nancy um die Ecke verschwand.

Und dann folgte ja noch das Finale. Auf einer Autobahnraststätte, als sich die beiden Austauschmuttis dann zum ersten und wohl auch zum letzten Mal begegneten. Auge in Auge, von Frau zu Frau und von Welt zu Welt. Dass es dabei nicht zu schwerwiegenden tätlichen Auseinandersetzungen kam, ist wohl grösstenteils der Anwesenheit der Kameras zu verdanken. Doris tobte, während Nancy beseelt singend vom Parkett schwebte. Das war er also, der Frauentausch. Zwei Frauen – zwei Welten.

„Eigentlich sind Menschen wie Nancy zu bewundern.“ Meine Couchhäsin richtete sich auf und räkelte sich verführerisch. „Sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt, haben ’ne Familie und einen unbeirrbaren Glauben und lösen Probleme mit einem Liedchen. Und ich werde so langsam müde.“

„tralalalala“ erwiderte ich daraufhin nur.

Draussen auf der Strasse zündete ich mir ein Zigarillo an und liess den Rauch genussvoll durch Lunge und Nasenlöcher ziehen. Und ich musste schmunzeln. Wer ist eigentlich Gott? Und wenn’s ihn gibt, hätte er dann nicht die Kiste ausgeknipst und uns vögeln lassen?

Ach… tralalalala…

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