Der Mut, der leise ist

Oder: Wie feige sind wir?

Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich vom Leben ausgeladen worden. Und ich möchte es doch so gerne als Einladung verstehen. Vom Leben ausgeladen – das ist manchem, wenn er auf sein Dasein schaut, wie aus dem Herzen gesprochen.

Die erste Hälfte des Lebens besteht aus Programmvorschau. Die zweite läuft unter dem Titel: „Erinnerst du dich?“.

Viele sprechen von der Last, die ihnen das Leben auflegt. Andere sprechen von der nötigen Anpassung, die einem hilft, das Leben zu bestehen. Und manch einer versucht auf eine ironische Weise damit umzugehen: „Das Leben ist ein mieses Theaterstück. Man sollte pfeifen, rausgehen und sein Geld zurückverlangen. Aber von wem?“ (Hans-Hermann Kersten). Und wer seine bitteren Erfahrungen nicht vergessen kann, wie sollte der nicht verstehen: „Leben ist, als müsse man Honig von den Dornen lecken.“

Es gibt den Satz: „Niemand kann aus seiner Haut heraus.“ Kann also auch niemand aus seinem Leben heraus? Manch einer hätte gern diese Haut abgelegt, eben weil er dauernd von einer anderen träumt. Ein anderer wünscht sie genau diese, die der andere gerade ablegen will. Er meint, Anrecht auf etwas Besseres, Gründlicheres, Originelleres oder irgendwie Abenteuerlicheres zu haben.

Siegen und Gewinnen gehört zu unserem Leben. Und wenn es uns nicht so direkt zuteil wird, dann werden wir die Sehnsucht danach doch niemals los. Aber Verlieren – das ist eine schmerzliche Erfahrung. Und wer möchte schon mit Verlusten leben? Dabei macht jeder von uns die Erfahrung, dass er in seinem Leben so manches verliert, von dem er gemeint hat, es gehöre ihm immer und für alle Zeiten. Verlieren tut weh und mit Verlusten leben wäre etwas, was mancher als unvermeidbar zwar akzeptiert, obwohl er nicht gerne davon redet.

Mit Verlusten leben – an Verlusten reifen.

Aber an Verlusten reifen? Wie geht das? Vielleicht wird das erst dann möglich, wenn man diesen Verlust so verarbeitet hat, dass das, was ihn bewirkte, durch einen hindurchgeht. Vielleicht kommt es soweit, dass ich entdecke: Was mir da genommen wird und was jetzt als Neues auf mich zukommt, will eine Herausforderung sein, der ich mich stellen muss.

„Man muss in sich selber leben und an das ganze Leben denken, an all seine Millionen Möglichkeiten, Weiten und Zukünfte, denen gegenüber es nichts Vergangenes und Verlorenes gibt.“ (Rainer M. Rilke)

In unserer Gesellschaft wird Wachstum gross geschrieben. Jeder möchte daran Anteil haben. Die Stichworte sind hinreichend bekannt. Sie begegnen uns zum Beispiel, wenn es heisst, die Wirtschaft müsse wachsen. Aber es gibt auch eine Rückseite. Und auch da gibt es ein Wachstum.

Die wachsende Einsamkeit unter uns.

Es werden nicht wenige sein, die davon betroffen sind. Denn immer mehr Menschen erleiden, was Anonymität, Beziehungslosigkeit, Isolation, Einsamkeit bedeuten. Vorzüge der Freiheit des Alleinseins? Für viele ist die Stimmung umgeschlagen. Und wenn man in die Sprechstunde der Psychologen und Therapeuten hineinhorcht, dann sind die Signale, die von dort kommen, deutlich genug. Ist es so, dass die wachsende Einsamkeit der Menschen möglicherweise eine der ernsthaftesten Krankheitsursachen unserer Zeit ist? Und hat jener Arzt Recht, der schreibt: „Ein gebrochenes Herz ist keine dichterische Erfindung. Es gibt einen schrecklichen Zusammenhang zwischen dem Mangel an Partnerschaft und Herzkrankheiten“?

Und man möchte da heraus. Aber wie sind die Erwartungen dabei? Sind sie nicht zu oft falsch orientiert? Zu viele wollen zu viel zugleich: Totale Unabhängigkeit UND einen festen Partner; die Vorteile einer Familie, aber keine Pflichten; sie wollen die Gemeinschaft, sind aber nicht bereit, sich an deren Gesetze zu halten.

Wie viele Versuche und wie viel Resignation!

Worauf es ankommt, ist, dass jemand, der einen braucht, der ihm zuhört, auch selber einer sein muss, der zuhören will. Und dass jemand, der seine Einsamkeit verlässt und eine Partnerschaft eingeht, auch selber bereit sein muss, Partner zu sein. Denn das Ich findet sich am Du. Und ohne Du geht das Ich verloren.

Der Psychologe Viktor E. Frankl schreibt über uns: „Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte mehr, was er tun muss. Und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er tun soll. Nun, weder wissend, was er tun muss, noch wissend, was er tun soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will.“

Und Max Frisch hat von der „fidelen Resignation“ als ein Kennwort unserer Zeit gesprochen – das klingt altmodisch, benennt aber treffend die Schattenseite einer reizüberfluteten Gesellschaft, in der viele dem Spass hinterherlaufen.

Sind wir feige?

Das Leben ist kein Wunschkonzert, wo wir uns lediglich zurücklehnen brauchen, um genüsslich und mit anhaltender Begeisterung im Takt der Musik mitzuwiegen. Aber im Grunde ist unser Dasein simpel und an den Wegen stehen so viele Ruhbänke, dass ich mich wundere, wenn einer müde wird. Wir nennen uns oft stark aber wir sind es doch nicht wirklich. Mehr noch, wir sind feige geworden. Und genau dieser Mut fehlt uns: mutig zu sein gegenüber dem Unbequemen, Seltsamen und Wunderlichen, das uns im Leben begegnet.

Der Mut, der leise ist…