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Ort der Erleuchtung

Ja, ich führe ein Doppelleben.

Tagsüber sitz’ ich auf meinem zugegeben bequemen Pupssessel in einem nichts zur Sache tuenden Amt in einer noch weniger zur Sache tuenden Stadt und schiebe Akten – abends verwandle ich mich in eine 21jährige bisexuelle Studentin mit viel Sinn für Sinnlichkeit und noch mehr stattlicher Oberweite. Die Internet- Community ‚love4ever‘ machts möglich.

Bei ‚love4ever‘ bin ich also fast allabendlich unter dem Pseudonym „Jeanette“ unterwegs. Im Grunde schlägt Jeanette’s Herz für ihre beiden grossen Leidenschaften: Transzendentalphilosophie und Poppen. Die „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant und „How To Make Love Like A Pornstar“ von Jenna Jameson stehen auf ihrer Literaturliste; als grosse Vorbilder dienen ihr die Lebenswerke von Descartes, Vin Diesel, Beate Uhse und Howard the Duck. Kurz gesagt: Jeanette ist eine total überzogene und vollkommen unrealistische Karikatur meiner blühenden Fantasie.

Dass es Mädels wie Jeanette einfach nicht gibt, bedeutet aber nicht, dass ihr die Kerle nicht reihenweise hinterherlaufen und sie hemmungslos angraben. Täglich landen mindestens acht Nachrichten in ihrem Posteingangsordner. Manchmal ist es nur ein schüchternes „Hallo“ verbunden mit ein oder mehreren Momentaufnahmen des primären männlichen Geschlechtteils. Der etwas romantischere Typ hingegen vermeidet tunlichst die Übermittlung seiner Schwanzbilder und lobt erst einmal die Qualität ihrer Brüste, bevor er im nachfolgenden Satz bedauert, dass es ja leider kein Foto von Jeanette’s Augen gibt. Und dann gibt’s natürlich noch die ganz Cleveren, die ihr Nacktfotos abluchsen wollen, indem sie sich entweder als Vollblutlesbe ausgeben oder aber gerade eben auf den bisexuellen Geschmack gekommen sein wollen. Aber hey, euch erkenn’ ich sofort! Wie sagt man so schön: Du willst mir doch nicht meine eigenen Tomaten verkaufen?

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob Jeanette’s sabbernde Verehrergemeinde einfach zu naiv ist, um Eins und Eins zusammen zu zählen, aber ich glaube mittlerweile, es ist noch um einiges schlimmer: Die Illusion einer Frau, die beim geringsten Fingerschnippen in ohnmächtige Wallung gerät, ist für viele Männer so wichtig, dass sie einfach nicht unwahr sein darf.

Ein gerade mal volljähriger Pickeljüngling aus der grossen Schwachmatengemeinde schrieb Jeanette: „Du bist wirklich sexy. Die erste, die ehrlich ist in ‚love4ever‘. Find’ ich cool. Meld’ dich mal.”

Tja, also hier bin ich. Sorry – und das wird nicht deine letzte Enttäuschung sein.

. . .

Frauentausch

„Ich bin ab halb neun zuhause, komm‘ doch noch vorbei, wenn du magst.“

Ja, warum eigentlich nicht. So herrlich spontan, wie ich das mag. Und nur zehn Minuten bis zu ihrer Wohnung. Ich frage mich, wonach mir der Sinn steht. Zu erzählen hätte ich genug. Viel ist passiert in den letzten Wochen, aber nur wenig, was sie interessieren darf. Vielleicht möchte ich mich auch einfach nur anlehnen und meine Klappe halten. Vielleicht ein paar Streicheleinheiten geniessen. Vielleicht auch vögeln. Und vielleicht wird irgendetwas von alldem sogar passieren, sollten unsere Sinne sich denn irgendwo in der Mitte treffen.

Wir haben noch keine Namen füreinander. Bekannte, Freunde, Kumpel/-ine – das alles scheint nicht recht zu passen. Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Wir stehen an einer Stelle, wo noch alles werden kann. Oder auch gar nichts. Aber keine sich fixierenden Ideale, auf die man blind losrennt. Eher ein wachsames Umschleichen, was jetzt schon einige Wochen anhält. Und das auch nicht regelmässig. Mal zusammen abgefeiert, mal gemeinsam abgetaucht, mal gegenseitig angezickt , mal so und mal so. Und so einfach. Kein Muss dahinter, nicht mal ein Soll. Nur ein Kann.

Immerhin brannten Kerzen im Wohnzimmer, wenn auch der Fernseher im Hintergrund lief und nicht ganz zu der restlichen Atmosphäre passte. Aber es störte mich nicht einmal. Im Gegenteil, vielleicht war gerade er für die gewohnte Ungezwungenheit verantwortlich, die ich in ihrer Gegenwart empfinde. Unsere Sinne trafen sich in einer angeregten Unterhaltung über ihre letzten Tage oder, besser gesagt, sie redete und ich hörte zu. Ihre Jobsuche gestaltet sich doch schwieriger als zunächst erwartet. Wieder zwei Absagen. An Urlaub nicht zu denken und die Wohnung muss auch dringend renoviert werden.

Ich war froh darüber, selbst nicht viel reden zu müssen. Je mehr sie erzählte, desto mehr rückten meine eigenen Probleme von mir ab. Nur das Stechen in der Magengegend seit Montag und die Tatsache, am Ende doch nicht das bekommen zu haben, was ich mir gewünscht hatte. Es war nicht mehr als ein Traum, der mir zuflog, zwei Wochen verweilte und sodann wieder im Himmel verschwand. Zu kurz, um dem wirklich eine Bedeutung zuzumessen, aber gerade ausreichend, um für den Augenblick den Boden unter den Füssen zu verlieren. Jung und makellos und anders war sie. Wenn ich sie jetzt bloss nicht als Massstab vor Augen hätte… das macht mir ein wenig Angst.

„Ach, jetzt kommt ja ‚Frauentausch‘. Kennst du das?“
Meine Couchnachbarin angelte sich eine Zigarette und liess sich gemütlich in die Kissen fallen. Das einzige, was mir in dem Zusammenhang einfiel, waren Frauen, die untereinander Zigaretten und Deo und dergleichen tauschten – dies allerdings gut weggeschlossen und ohne Bewährung.
„Das war ‚Frauenknast‘. Beim ‚Frauentausch‘ wechseln zwei Frauen für eine Zeit die Familie.“
Ach, dachte ich, wieder ’ne neue Doku-Soap, die die Welt nicht braucht. Ich weiss schon, warum mein TV meistens kalt bleibt.

Frauentausch – In jeder Folge dieser Doku-Soap ziehen zwei Frauen aus komplett unterschiedlichen Umfeldern für zehn Tage zu der jeweils anderen, ganz unbekannten Familie. Zwei Frauen – zwei Welten. Also ein wenig kam ich mir auch vor wie in ’ner anderen Welt, als sich die erste von den beiden Zaubermäusen vorstellte. Nancy, knapp achtunddreissig und optisch die Mischung aus Angela Merkel und einem Bratapfel, wirkte schon am Anfang recht befremdlich auf mich, und das sollte sich während der Sendung sogar noch vertiefen. Eine praktizierende Vollblutchristin – ständig mit der Bibel im Gewand und dem Arbeitsplan für die sieben Blagen im Handgepäck. Und ständig irgend ein Requiem, das sie trällert. Das graue Haupthaar lustlos zu einem Zopf zusammengebunden liess der Rest ihres Anlitzes die Vermutung zu, dass Seife im Haus nur unnötiger Luxus ist. Einmal Warmwasser in der Woche reicht schliesslich vollkommen aus. Nicht besonders erwähnt werden muss, dass sie bei ihrer Kleiderwahl ähnlich ‚anspruchsvoll‘ ist. Willkommen im Mittelalter. Doris hingegen scheint da schon etwas weltoffener durch’s Leben zu schreiten, wenn auch ihre knapp vierzig Erdenjahre und fünf Sprösslinge nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind.

Tja, und da fand sich die heilige Nancy auf einmal in einem Clan von Ungläubigen wieder und wusste nicht recht, wo sie mit den Bekehrungsversuchen beginnen sollte. Die Karten, oder besser gesagt: die Bibel gleich bei der Ankunft auf den Tisch zu legen, war taktisch unklug aber geradezu bezeichnend und liess das befürchten, was folgen sollte. Die beiden schon fast erwachsenen Töchter waren über Nancy’s missionarische Unternehmungen nicht sonderlich erfreut und auch Doris‘ Mann zeigte sich ein wenig befremdlich, als die neue Hausgenossin gleich am ersten Tag in den Küchenschränken nach vergammelten Brotkrumen fahndete. Vielleicht hätte sie das Gefundene auch einfach wortlos entsorgen können, anstatt jedes Mal nach dem Hausherren zu krähen. Der nächste Aufhänger erschien nur kurze Zeit später in Form eines vollbepackten Bügelkorbes, der sogleich neu sortiert werden musste. Ehrlich gesagt, ich hatte ihr glatt zugetraut, dass sie überhaupt nicht bügelt, aber sie fand dann doch das ein und das andere Stück, was sie in bei näherer Betrachtung in Erwägung ziehen wollte, es dem Plätteisen unterzuschieben. Aber so ganz einig mit sich selbst war sie da auch noch nicht, so dass der Hausherr erneut zur Rate gezogen wurde. An dem Abend hat er den ganzen Korb Wäsche selbst gebügelt, aber immerhin hat er den Schauplatz unbeschadet und ohne grössere Diskussionen verlassen können. Ich beneidete ihn um seine Ruhe. Die Situation drohte schliesslich zu eskalieren, als sie am nächsten Tag im Bad-Eimer so ganz „zufällig“ Zigarettenstummel entdeckte und sich trotz intensiver Nachforschung kein Verursacher dieser Freveltat ermitteln liess. Und natürlich wurde der Herr des Hauses unter plärrendem Klagegesang zur Stelle und zur Verantwortung zitiert. Ich bewunderte wiederum den stahligen Geduldsfaden von Doris‘ Herzallerliebsten, denn ich hätte die Nachwuchsheilige spätestens an diesem Punkt auf den Scheiterhaufen gebunden.

Währenddessen machte sich Doris in ihrer neuen Familie beliebt. Den Schock vom Blick in den Kleiderschrank ihrer Tauschgenossin hatte sie überwunden, und am Abend gab’s Nudelauflauf anstatt Hirsebrei und das auch noch ohne lange Lobgesänge vorneweg. Für die Kid’s war’s ein Fest. Und am nächsten Tag zu Esprit, um etwas Farbe in die steingraue Altkleiderwelt der pubertierenden Teenager zu bringen. Ja, natürlich sponsern das die Fernsehfritzen, aber darum geht’s ja nicht. Etwas bunter ging’s jetzt auch in den Jugendzimmern zu – ein Stapel Bravo’s und andere einschlägige Zeitschriften, die bisher tabu waren, wurden ihrer Starposter beraubt, die von nun an die bis dahin fast kahlen Wände schmücken sollten. Schnell entwickelte sich ein inniges Verhältnis zwischen Doris und den Kids, die das neue Leben mit ihrer Leihmutter offensichtlich sehr genossen. Sie aßen und lachten und weinten zusammen. Doch die teilweise realitätsfremden Geflogenheiten in dieser anderen Welt machten ihr zu schaffen. Als sie den heiligen Arbeitsplan zerriss, der nach ihrer Meinung hart an der Grenze zur Versklavung der Pappenheimer lag, wurde Nancy’s Mann, der sich ansonsten am liebsten im Hintergrund aufzuhalten schien, ein wenig mürrisch. Immerhin sei der Plan mühevoll erarbeitet worden. Und ausserdem schlafe Nancy nach Mittag gerne immer etwas. Undundund. Ja nee, ist klar – fortwährender Minnegesang kann auf Dauer anstrengend werden, und wer schläft, sündigt schliesslich nicht.

Unsere Betschwester bewegte sich mittlerweile auf immer dünner werdendem Gefrorenem, und das nicht nur auf Schlittschuhen. Ein Familienausflug zur Eisbahn sollte retten, was zu retten ist, aber irgendwie konnte sie auch dort nicht wirklich punkten. Wenn Doris‘ Männe sich nicht an die Hand nehmen lassen will, dann will er eben nicht. Vor allem nicht, solange sie psalmensummend über’s Eis schwebt, als wäre gerade der heilige Geist in ihr eingekehrt. Erwähnte ich schon, dass ich ihn verstehen kann? Ich war allerdings überrascht, dass sie ’ne Jeans trägt, dazu noch eine gut sitzende, aber meine Couchnixe neben mir meinte nur, dass diese in Ausnahmesituationen auch vom Sender finanziert werden. Ach so. Die Situation wurde tatsächlich immer ausnahmeähnlicher; Nancy’s ständiges Trällern gottgefälliger Lobeshymnen konnte selbst den geduldigsten Zuschauer in den Wahnsinn treiben, insbesondere weil sie nun begonnen hatte, dazu im mittelalterlichen Reigen zu tanzen. Meiner Meinung nach musste Doris‘ Göttergatte, der das Spiel scheinbar in himmlischer Ruhe ertrug, innerlich kurz vor einem mittelschweren Nervenzusammenbruch stehen. Aber ich glaube, ich sagte bereits, dass ich ihn bewundere. Und der Nachwuchs begann sogar freiwillig mit dem Beten, dass diese Zeit schnell vorbei ginge. Nur einmal konnte sie uns fast ein wenig leid tun, wo ihre schon fast dämliche Fröhlichkeit urplötzlich in einer kleinen Trotzszene endete und sie damit drohte, das Haus vorzeitig zu verlassen. Keiner hat widersprochen, aber sie blieb trotzdem bis zum bitteren Ende.

Abschiedstränen gab’s dann eher auf der einen Seite, denn der Gedanke, dass die Supernannydoris jetzt wieder das Feld räumte, gefiel Nancy’s Kindern keineswegs, und noch weniger gefiel ihnen die Tatsache, dass die Poster nun in den Mülleimer wandern würden und anstelle von Mama Miracoli die Hirsebreifrau wieder den Kochtopf übernehmen wird. Aber man würde sich auf jeden Fall wieder sehen. Auf der anderen Seite hingegen fiel der Abschied erwartungsgemäss etwas weniger spektakulär aus und die Zurückgebliebenen ertrugen die Umarmung ob der Gewissheit, dass nun wirklich alles vorbei ist, tapfer. „Ach, das war klar – unrasierte Achselhöhlen “ Die Bemerkung konnte sich die Coucheline neben mir dann doch nicht verkneifen, und mir war auf einmal so, als verspürte ich einen leicht iltisartigen Geruch, der aus dem Fernsehen zu kommen schien. Und tschüss – Doris‘ Mann sog genüsslich an der ersten Zigarette seit Tagen, als der Wagen mit Nancy um die Ecke verschwand.

Und dann folgte ja noch das Finale. Auf einer Autobahnraststätte, als sich die beiden Austauschmuttis dann zum ersten und wohl auch zum letzten Mal begegneten. Auge in Auge, von Frau zu Frau und von Welt zu Welt. Dass es dabei nicht zu schwerwiegenden tätlichen Auseinandersetzungen kam, ist wohl grösstenteils der Anwesenheit der Kameras zu verdanken. Doris tobte, während Nancy beseelt singend vom Parkett schwebte. Das war er also, der Frauentausch. Zwei Frauen – zwei Welten.

„Eigentlich sind Menschen wie Nancy zu bewundern.“ Meine Couchhäsin richtete sich auf und räkelte sich verführerisch. „Sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt, haben ’ne Familie und einen unbeirrbaren Glauben und lösen Probleme mit einem Liedchen. Und ich werde so langsam müde.“

„tralalalala“ erwiderte ich daraufhin nur.

Draussen auf der Strasse zündete ich mir ein Zigarillo an und liess den Rauch genussvoll durch Lunge und Nasenlöcher ziehen. Und ich musste schmunzeln. Wer ist eigentlich Gott? Und wenn’s ihn gibt, hätte er dann nicht die Kiste ausgeknipst und uns vögeln lassen?

Ach… tralalalala…

. . .

Frau Schimanski

Rrrrrrrrrrrring…

Es war das eindringliche Läuten des Telefons, das mich jäh aus meiner lethargischen Schweigeminute kurz nach der Tagesschau riss.

Bewaffnet mit ein paar übrig gebliebenen Salzkräckern vom Wochenende und einer Flasche Cabernet hatte ich mich gerade auf die Couch gelümmelt und suchte nach der Fernbedienung, da mein TV meistens kalt bleibt und die Funktastatur offensichtlich aus Langeweile ein Eigenleben entwickelt hat.

„Wer stört?“ maulte ich in den Hörer, während ich die Sofakissen nach der verschwundenen Flitsche durchforstete.

„Steinhaus hier, guten Abend.“

„Guten Abend Frau Steinhaus, ich wollte gera…“

„Ich störe hoffentlich nicht, ich kann auch gerne morgen noch mal anrufen, obwohl… es wird nicht lange dauern, denke ich…“

Soso – denkt sie das also. Da denke ich allerdings ganz anders. Frau Steinhaus ist meine Nachbarin und darüber hinaus eine allein stehende Frau in den Mittfünfzigern. Ihr Mann war „nur mal Zigaretten holen.“ – Das ist jetzt allerdings fast drei Jahre her und mittlerweile hat sie die Hoffnung aufgegeben, dass er den Weg nach hause allein zurückfinden wird. Vom Typ her erinnert sie mich ein wenig an die weißgekittelten Schlusen, die einem an der Eingangstür bei ‚Douglas‘ mit Zahnpastalächeln und drei Flakons gefüllt mit hochprozentigen Duftstoffen entgegenstürzen. Die Haare wasserstoffblond gefärbt und eine Haut wie ein sonnenbankgeschädigtes Albinokaninchen – immerhin hat sie es in den letzten zwei Jahren geschafft, ihre Kleidergrösse auf achtundreissig herunterzuhungern.

„Na ja, eigentlich wollte ich gera…“

„Oder ich kann auch mal schnell vorbeikommen, es dauert auch nicht la…“

„Neiiiiiiiiiiiiiiiin… ääh, ich meinte, ich komme gerade aus der Dusche.“

Und das stimmte sogar, nur dass der eigentliche Grund in wenigen Minuten beginnen würde und ich diese verflixte Fernbedienung immer noch nicht gefunden hatte. Ein Tatort mit Schimmi, wenn auch in der neunten Wiederholung, ist für mich immer noch der beste Grund, meinen Fernseher mal wieder zu entstauben.

„Dann erzähl‘ ich’s Ihnen kurz am Telefon, es ist nämlich…“

„Hab‘ sie!!!“

„Was haben Sie?“

„Na, die Fernbedienung!“ Beseelt angelte ich das verwunschene Teil unter der Couch hervor.

„Ach so, Sie wollten sicher Fernsehen gucken. Was läuft denn schönes?“

„Schimanski im Dritten.“

„Den hab‘ ich ja auch immer gerne gesehen. Also spannend bis zur letzten Minute. Und dann dieser Kommissar. Wie hieß er noch gleich? Georg oder George oder so?!“

„George! Götz George!“

„Genau. Sag‘ ich doch. Also so ein hübsches Kerlchen. Für sein Alter…“

Ich grummele leise vor mich hin. Ja, da hat sie ja nicht unrecht. Auf das Kerlchen kann man fast ’n bisschen neidig sein. Die wohldosierte Mischung zwischen Macho und Weichei – sozusagen die coolste Sau, seit es Tatort gibt.

„Na ja, aber privat soll er ’n Arschloch sein…“ log ich in den Telefonhörer.

„Was passiert denn da jetzt?“

Bitte jetzt nicht das! Ich kenne die Folge zwar in- und auswändig, verspürte aber nicht die geringste Lust dazu, eine ausführliche Inhaltsangabe vortragen zu müssen.

„Ach, wie immer: ‚Ne Bande Waffenschieber macht den Ruhrpott unsicher und bei den Bullen gibt’s ’ne undichte Stelle. Zwei Morde und ein leerer Geldkoffer. Aber am Ende wird alles gut.“

„Schön, also ich muss Ihnen was erzählen. Der Alte von nebenan hat ’nen neuen Zaun gebaut. So was von hässlich und viel zu hoch. Sie arbeiten doch bei Gericht, kann man da nix machen?“

Hääää? Also ehrlich, und ich dachte, sie hätte ernsthaft meinen Ausführungen zum heutigen Tatort gelauscht. Und jetzt der Alte? Mit dem Alten meint sie übrigens den pensionierten Postbeamten, der sich ihre Nachbarschaft mit mir teilt. Ein langweiliger Gnom mit fleischfarbiger Badekappe, langweiliger Ehefrau und noch langweiligeren Hobbys. Eines davon ist wohl das Errichten von Gartenzäunen, denn mir war es gestern abend auch aufgefallen, dass er ein neues, drei Meter hohes Prachtexemplar erbaut hatte.

„Mmmmh, es gibt schönere Zäune. Aber ob man da was gegen machen kann…?“

„Haben sie ihn eigentlich schon?“

„Wen?“

„Na, die undichte Stelle bei der Polizei!“

Ach ja, ich hätte es fast vergessen: Frauen können ja im Gegensatz zu Männern auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig kommunizieren. Sie beginnen ein Thema, schalten sogleich und ohne Vorwarnung auf ein vollkommen neues und kehren im Schlussakkord zum ersten zurück, dem sie sicherheitshalber noch ein paar neue Aspekte hinzugefügt haben.

„Nee, aber Schimmi ist knapp davor: Ihm fehlt nur noch der endgültige Beweis. Und jetzt muss er verdeckt ermitteln, damit er nicht auffliegt.“

„Ist das die Stelle, wo er sich als Penner verkleidet hat?“

„Die war schon.“

„Schade.“

Kein einziges Mal in diesem Tatort hat Schimmi sich als Penner verkleidet, aber ich wollte jetzt auch nicht anfangen zu diskutieren.

„Das ist die Stelle, wo der Alte ääääh Schimmi Leute bis über die Grenze nach Holland verfolgen muss.“

Die Alte äääh Frau Steinhaus machte mich langsam etwas kirre. Die erste halbe Krimistunde war bereits verstrichen und ich hatte so gut wie nichts richtig mitbekommen.

„Sagen sie mal, darf der denn so einfach über die Grenze?“

„Ja klar, das nennt man grenzüberschreitende Ermittlungen. Der darf das.“

„Nein, ich meine, ich habe eben mal nachgemessen. Der Zaun steht nicht genau auf der Grenze. Ein Teil ist auf meinem Grundstück.“

Ich nahm mir fest vor, vor dem nächsten Tatort das Telefonkabel aus der Wand zu ziehen.

„Wie viel ist es denn?“

„Mindestens zwei Zentimeter. Aber sagen sie doch mal, das ist doch verboten, oder?“

Schimmi war mittlerweile wieder wohlbehalten nach Duisburg zurückgekehrt und lieferte sich gerade eine wilde Verfolgungsjagd im Hafen.

„Gleich hat er ihn – an der nächsten Ecke schneidet er ihm den Weg ab. Ääääh, da läuft jetzt gerade die Verfolgungsjagd im Duisburger Hafen. Sorry, wie war das? Ja, das ist verboten. Und jetzt?“

„Also das Verfolgungsjagden im Hafen nicht erlaubt sind, darauf wäre ich auch gekommen. Ist der Verräter denn schon enttarnt?“

„Schon seit mehr als ’ner halben Stunde. Schimmi steht kurz vor dem Abschluss.“

„Soll ich ihn verklagen?“

„Schimmi???“

„Nein, den Alten!“

„Weswegen?“

„Na wegen des Zaunes.“

„Ähm, welcher Zaun? Ach so… wegen der paar Zentimeter…? Vielleicht können Sie ja ’nen deal machen: der Zaun bleibt so, wie er ist, aber dafür wirft er diese dämlich grinsenden Zwerge aus seinem Vorgarten direkt in den Duisburger Hafen.“

„Wohin?“

„Ähm, ich meinte: auf’n Müll.“

„Was war übrigens in dem Koffer?“

„Was? Welcher Koffer?“

„Na, der Geldkoffer.“

Mir war jetzt irgendwie danach, den Koffer mit meiner Nachbarin zu füllen und diesen im Duisburger Hafen zu versenken.

„Der war leer. Nichts drin. Ohne Inhalt. Capisci?“

„Und Sie glauben, der würde sich auf diesen deal einlassen?“

„Was? Mit leerem Koffer?“

„Nein, mit den Gartenzwergen!“

„Dafür muss er ja den Zaun nicht abreissen. Es käme auf einen Versuch an, und wenn Sie ’nen guten Tag erwischen… wer weiss?!

„Ich treff‘ seine Frau ja schon mal beim Bridgeabend. Vielleicht kann sie ihn ja überreden?! Gibt’s schon Tote?“

„Ja, zwei Stück, beide männlich und so was von tot.“ – Und gleich gibt’s die dritte Leiche, grummelte ich vor mich hin.

„Und wer war der Mörder?“

„Der Alte.“

„Was?“

„Ähm, nein, ein Profikiller, der für die Schieberbande arbeitete. Und der ist jetzt auf der Flucht.“

„Ich glaube, dass ist ’ne gute Idee.“

„Bitte…?“

„Da könnte ich sie gleich mal fragen… Wissen Sie, sein Pflaumenbaum hängt doch halb auf meinem Grundstück, und das ist ja vielleicht ’ne Sauerei, wenn die Früchte auf dem Rasen verfaulen.“

„Ja, aber vielleicht stockt er dann den Zaun auf, damit keine Äste mehr herüber wachsen können?“

Ich musste mir gerade vorstellen, wie Frau Steinhaus beim Einsammeln der verfaulten Nachbarspflaumen von einem drei Meter hohen Zaun erschlagen wird. Irgendwo hatte ich doch noch eine Motorsäge…

„Haben sie den Mörder schon?“

„Ja, der ist allerdings schon wieder auf Bewährung draussen und der Geldkoffer vergammelt im Archiv.“

„Ist der Film etwa schon zu Ende?“

Ich flötete nur ein leises „Ja“ in den Äther, obwohl mir in diesem Moment vieles durch den Kopf ging, ich aber das gute nachbarschaftliche Verhältnis nicht trüben wollte.

„Ich muss mir das ganze noch mal durch den Kopf gehen lassen. Andererseits hab‘ ich durch den Zaun im Sommer auf der Wiese ein wenig Schatten, dann brauche ich den Schirm nicht aufstellen und…“

„Schlafen Sie drüber!“

„Danke für den Rat. Gute Nacht, Herr Kommissar.“

„Gute Nacht, Frau Schimanski.“

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Peri Nawa

…everything’s all right!

Als ich vor einigen Wochen ein kleines Dorf im Norden Namibias besuchen durfte, war dies eines der wenigen Worte, die ich so schnell nicht vergessen werde. Es liegt wohl weniger an der Sprache selbst – eher sind es wohl die besonderen, wenn auch leider nur kurz angeschnittenen Eindrücke, die bei mir deutliche Spuren hinterlassen haben.

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Das Dorf, das ich besucht habe, wird von Himba bewohnt. Die Menschen eines der letzten halbnomadischen Völker des afrikanischen Südens leben im nördlichen Teil Namibias, dem Kaokoland, aber auch im Süden Angolas.  Obwohl sie Sprache und Kultur mit den christianisierten Herero teilen, lehnen sie westliche Kleidung ab, ziehen die Körperbemalung vor und betonen ihren Haarschmuck.

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Die Frisuren bezeugen den sozialen Stand eines Gemeinschaftsmitglieds. Mädchen tragen ihr Haar in langen, mit Perlenschnüren verzierten und ins Gesicht fallenden Fransen; zu zwei zur Stirn gerichteten Zöpfen hingegen heiratsfähige junge Frauen. In überschulterlangen, gedrehten und mit Ocker eingeriebenen Flechten aus dem Gesicht gekämmt und mit ‚Fellhaube‘ geschmückt, präsentieren sich verheiratete Frauen. In diesem komplizierten Geflecht offenbart sich bereits der Stolz der eigenen Tradition –  viel Zeit vergeht, bis Frau die Haare schön hat.

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Besonders auffällig ist die fettige Creme, mit der sich Männer wie Frauen einreiben. Sie verleiht ihnen nicht nur die typische rote Hautfarbe, sondern schützt auch vor dem extrem heißen und trockenen Klima des Kaokolands und vor Moskitostichen. Sie besteht aus Butterfett und Ockerfarbe, okra genannt. Der färbende Bestandteil im natürlichen roten Ocker ist das Eisenoxid, dazu kommt das aromatische Harz des Omazumba-Strauches.

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Wertvoll sind die Schmuckgegenstände aus Eisen und Erzen, die oftmals über mehrere Generationen weitervererbt wurden. Sie symbolisieren nicht nur Reichtum, sondern unterstreichen auch die archaisch anmutende Schönheit ihrer Besitzerin, die ihn stolz um den Hals und an den Hand- und Fußgelenken trägt. Darüber hinaus sind sie nur mit einem aus Kalbsleder und Kalbsfell hergestellten Lendenschutz bekleidet; der restliche Körper bleibt unbedeckt. Ockerfarbene Haut, traditionelle Haarpracht und variantenreicher Schmuck machen das Schönheitsideal der Himba-Frauen aus. Ein Ideal, das für uns westlich geprägten Besucher vielleicht ungewohnt ist. Aber es stimmt: Die Himba-Frauen sind schön – und sie strahlen eine große Würde aus.

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Wie viele andere afrikanische Stämme verehren auch die Himba ihre Ahnen – die monotheistische Religion stützt sich auf ihren Gott mukuru. Okuruwo, das heilige Feuer der Himba, hüten sie wie einen Schatz. Zwischen der Hütte des Clanchefs und dem Viehkral gelegen, darf es nie erlöschen, denn es stellt die so wichtige, symbolische Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten her. Die Feuerstelle ist der zentrale Teil eines Himba-Dorfes – seine Anordnung auf der Linie zwischen der Haupthütte und dem Tiergehege ist streng vorgeschrieben.

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In ihrer weltlichen Welt dreht sich alles um ihre Kühe und Ziegen. Sie sind der einzige Besitz, der wirklich zählt. Ob ein Himba reich ist, erkennt man an der Größe seiner Herde. Geld oder andere materielle Dinge sind nicht so wichtig. Sie leben im Einklang mit der Natur, die ihr Überleben sichert und sie mit allem Nötigen versorgt: Mopane wird vor allem als Baumaterial für Hütten, Zäune und Vorratskammern genutzt – der braune Kampferbaum dient der Fertigung von Geschirr und Löffeln und auch für die traditionellen Holzkopfkissen.

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Im Dorf scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Ein wenig komme ich mir vor wie einem Freilichtmuseum, in dem vergangene Kulturen anschaulich dargestellt werden. Aber das ist die Realität der Himba im 21. Jahrhundert: kein Strom, kein fließend Wasser, kein Telefon, kein Fernseher und kein Handy-Empfang – einfachstes Leben in unwirtlicher Natur.

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Nur für einen kurzen Augenblick durfte ich am Leben eines der letzten Naturvolkes Teil nehmen; viel zu kurz, denn ich hätte mir einige Augenblicke mehr gewünscht, um Kultur, Geschichte und vita näher kennen lernen zu dürfen. Doch wurde mir in diesen Momenten auch klar, dass ich zurückkehren werde.

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Fast unberührt von der europäischen Zivilisation leben heute in etwa 7000 Himba als Viehzüchter, Jäger und Sammler im südlichen Afrika und mein Wunsch allein ist es, dass ein sanfter Tourismus diese ganz besondere Welt dem Spurensuchenden so nahe bringt wie die Sprache, die aus einem lustig anmutenden Kauderwelsch aus Bantu und Afrikaans fragt:  Ua penduka nawa ?

Peri Nawa! …everything’s all right!

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krauts

Semmelknödel als vollwertige und leckere Hauptmahlzeit

  • 2 altbackene Weizenbrötchen
  • 2 altbackene Roggenbrötchen
  • 150 ml Milch
  • 2 Eier
  • 1 grosse Zwiebel
  • 300 Gr. Sauerkraut
  • 100 Gr. Speck
  • 3 Eßl. gehackte Petersilie
  • 1 Eßl. gehackter Majoran
  • 3 Eßl. Mehl
  • Salz
  • Pfeffer
  • Butterfett

Den Speck in kleine Würfel schneiden und im Butterfett kross anbraten. Die Zwiebel ebenfalls fein würfeln und in der Pfanne glasig werden lassen, aber nicht bräunen. Sodann das fein gehackte Sauerkraut zugeben und fünf Minuten bei kleiner Hitze garen lassen. Zum Schluss die Petersilie unterrühren.

Die Brötchen in kleine Würfel schneiden, mit der erwärmten Milch übergiessen und quellen lassen. Sodann Eier, Majoran, Salz und Pfeffer unterrühren und das ganze mit dem Pfanneninhalt und dem Mehl sehr gut durchmengen. Die fertige Knödelmasse 15 Minuten quellen lassen. Sollte der Teig zu feucht sein, kann man Semmelbrösel unterarbeiten.

Mit feuchten Händen Knödel formen und im siedenden Salzwasser ziehen, aber nicht kochen lassen. Die Knödel sind fertig, wenn sie an die Oberfläche steigen; dies kann je nach Dicke zwischen 30 und 45 Minuten dauern. Sie zerfallen nicht so leicht, wenn man dem Wasser etwas Speisestärke zufügt.

Mit etwas zerlassener Butter serviert eignen sich die Knödel hervorragend als Hauptmahlzeit, man kann sie jedoch eben so gut zu einem deftigen Schweinebraten als Beilage reichen.

* * *

Auge in Auge

Es dauerte nicht mal eine halbe Stunde, bis er auftauchte. Mit leicht erhobenem Rüssel trat er in unmittelbarer Nähe unseres Camps aus dem Mopane-Wald und hielt für einen kurzen Moment inne. Seine eben noch ruhigen Ohren begannen mit leichten Bewegungen zu wedeln, während er seinen Rüssel prüfend in den Wind hob. Ein Bulle, vielleicht zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt – ein Einzelgänger, wie es bei Elefantenherren nach der Geschlechtsreife normalerweise vorkommt.

Wir bemerkten ihn erst, als er aus dem Dickicht hervorkam. Kein Geräusch, das ihn verriet, kein Brechen von Ästen.

Er senkte seinen Rüssel wieder. Langsam und bedächtig drehte er seinen Kopf in unsere Richtung, während seine Ohren eine nach nach vorne gerichtete Position einnahmen. Sie wedelten nun nicht mehr. So stand er eine ganze Weile dort und schaute beinahe teilnahmslos in unsere Runde. Trotz der Entfernung von knapp zwanzig Metern leuchteten seine Augen in einer Mischung aus Neugierde, Angst, Trauer und Mut bis zu uns herüber.

Wir waren reglos. Wir standen nur da und schauten ihn an. So wie er uns.

Dann drehte er langsam seinen Kopf wieder zurück. Erneut erhob er prüfend seinen Rüssel, kurz bevor er seinen massigen Körper wiederum in Bewegung setzte.

Majestätisch und scheinbar desinteressiert trottete er an uns vorbei. Seine Augen leuchteten jetzt noch mehr, noch intensiver und obschon sie nicht mehr direkt auf uns gerichtet waren, verfolgten sie doch jede noch so kleine Bewegung.

Wir waren Eindringlinge. Das musste er zumindest denken. Es ist sein Recht, so zu denken. Wir wollten ihn nicht stören, wir wollten ihm nichts böses. Aber woher soll er das wissen? Er handelt nach seinem Instinkt. Er verlässt sich nicht auf Gefühle oder Vermutungen.

In dieser Nacht habe ich lange am Feuer gesessen… fast eine Flasche Southern Comfort lang. Nein, Angst hatte ich nicht. Respekt hatte ich. Wie vor jedem Lebewesen. Vielleicht habe ich eher vor Menschen Angst als vor Tieren. Was unterscheidet uns denn vom Tier? Ein Tier handelt aus instinktiven Beweggründen, es erhält sich und es erhält seine Art. Und dafür tötet es manchmal sogar. Aber es schadet nicht wissentlich und schon gar nicht willentlich. Es kennt kein Unrecht, es kennt nur Recht.

Ich hab‘ den Rest der Flasche ausgeschüttet. Das macht mich anders. Das macht den Unterschied. Ich kann Dinge tun, die unsinnig sind. Dinge, die gegen die Logik sprechen und mehr schaden als nutzen. Und oft genug tu‘ ich sie auch. Dann bekomm‘ ich Angst vor mir selbst.

Chobe National Park 1998

* * *

Der Vulkan

Nie zuvor in meinem Leben habe ich so gefroren.

Wir befanden uns circa 2400 Meter über dem Meeresspiegel in einem hübschen kleinen Hotel, dessen Holzverschalung liebevoll in zartrosa getüncht war, und versuchten einzuschlafen. Das Abendessen bestand wie gewöhnlich aus ‚arroz con pollo‘ begleitet von einigen Dosen des schmackhaften einheimischen Bieres. Den ganzen Tag waren wir fast ausschliesslich auf unbefestigten, aber landschaftlich reizvollen Nebenstrecken im Landesinneren unterwegs; am kommenden Morgen sollte es dann in aller Frühe hinauf zum Vulkan ‚Irazu‘ gehen.

Costa Rica – die Schweiz Mittelamerikas. Kulturell ein Land der jungen Generation und der vermischten Hautfarben bietet es jedoch dem Naturverbundenen die Schönheiten eines ganzen Kontinents auf einer Fläche von der Grösse Niedersachsens. Architektonische Highlights und jahrtausendealte Kulturen sucht man hier vergebens – die ältesten Gebäude stammen aus dem 16. Jahrhundert seit der Entdeckung durch die Spanier und begeistern selbst durch die Linse der Kamera nur wenig. Vom tropischen Trockenwald in der Küstenebene bis zum vulkanischen Urgestein braucht es jedoch nicht länger als drei Stunden Autofahrt, und dabei werden nicht weniger als fünf verschiedene Klimazonen durchquert. Bergnebelwälder in immerwährender Feuchtigkeit und düsterem Licht liegen auf dem Wege wie auch lichte Tannenwälder, durch die sich die wichtigste Verbindung des Landes, die Panamericana, hindurchschlängelt. Und immer wieder diese grossen amerikanischen Trucks, die an den Steigungen der Traumstrasse Latein- und Mittelamerikas den Verkehr beinahe zum Erliegen bringen.

Fast mittig im Lande im ‚meseta central‘ liegt der höchstgelegene Vulkan des Landes, der ‚Irazu‘ auf einer Höhe von 3432 Metern über dem Meeresspiegel. Unscheinbar und gefahrlos schimmert das gelbgrüne, stark schwefelhaltige Wasser seiner Kraterseen in der frühen Morgensonne. Angeblich soll man von hier aus sogar sowohl den pazifischen als auch den atlantischen Ozean sehen können… ein Tatbestand, der jedoch eine erstklassige Fernsicht und dementsprechende Wetterverhältnisse voraussetzt und damit den meisten Kurzzeittouristen vorenthalten bleibt.

Die ganze Nacht haben wir kein Auge zugetan und selbst die herangeschafften zusätzlichen Wolldecken schafften es nicht, die innere Wärme der vorangegangenen Tage auszugleichen. Eine Woche bei feuchtschwülen 35 Grad und nicht einmal die Nacht brachte die ersehnte Abkühlung. Dagegen waren die Nächte im ‚meseta central‘ geradezu eisig; das Thermometer fiel auf sieben Grad, aber es erschien uns viel kälter und die gespeicherte Hitze der letzten Tage pochte unablässig unter der sich langsam abkühlenden Haut.

Frühmorgens nach dem obligatorischem Kaffee im Wasserglas machten wir uns auf den Weg zum Kraterrand in der Hoffnung, dass der Frühnebel der Sonne nicht lange standhalten würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Die seismologische Station lag bereits in der Sonne, als wir den Kraterpark erreichten und nur der unablässig pfeifende Wind hielt uns von gegenseitigen enthusiastischen Freudensbeurkundungen ab. Schwefelgeruch stieg in unsere Nasen und trotz der gewaltigen Böen erschien uns der Anblick der schroffen Felswände so, als wenn es eine Ewigkeit nichts gäbe, was sie verrücken könnte.

Es war ein wenig mehr als anderthalb Jahre später, als ich die Zeitung aufschlug und unter den kleingedruckten Schlagzeilen aus aller Welt folgende Zeilen las: „Costa Rica: Der Vulkan Irazu brach nach langer Zeit des Schweigens wieder aus und bedeckte die nahegelegene Hauptstadt San José mit einer vierzig Zentimeter dicken Ascheschicht.“

Die Chance, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, war eben so gross wie der berühmte Sechser im Lotto.

Aber nachdenklich hat es mich schon gemacht…

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Musica prohibida

Eine Liebeserklärung.

Sie sind zu sechst, und sie tauchen meist immer erst dann auf, wenn die meisten Gäste ihr Abendessen bereits beendet haben. Mit schlurfendem Gang bugsieren sie ihre Instrumente durch die Enge des kleinen Restaurants im Herzen von Havanna Vieja. Hier hin verirrt sich kaum ein Tourist; die Speisekarte beschränkt sich auf eine Handvoll einfacher Mahlzeiten und auch die spröde Aussenfassade verrät nichts über den Charme des offenen und mit unzähligen Rankblumen bepflanzten Innenhofes. Vielen Einheimische nutzen diesen Ort gerne, um bei Musik und einer Flasche Rum ihren Alltag für einen kurzen Augenblick vergessen zu können. Die wenigen Touristen, die nach hier gefunden haben, nippen gedankenversunken an ihrem Mojito oder diskutieren im Laufe zahlloser Gläser Cuba libre über ihre Eindrücke des vergangenen Tages.

Scheinbar unbemerkt haben die Musiker mittlerweile auf der kleinen Empore Platz genommen. Jeder von ihnen ist jetzt vollauf beschäftigt: Der Contrabassista wischt den Strassenstaub von seinem Instrument und der Congaspieler trommelt leise eine Melodie auf seiner mit Rinderhaut bespannten Standtrommel. Aus zerbeulten Behältern kommen Instrumente zum Vorschein, die schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz zu sein scheinen: eine abgegriffene Querflöte und die Tres, ein der Gitarre ähnliches kubanisches Saiteninstrument. Die Maracas – Rumbakugeln, deren Korpus noch aus Kürbissen besteht und deren Klang an das durchdringende Prasseln springender Kieselsteine erinnert. Und schliesslich zwei aus hartem und wohlklingendem Holz hergestellte Zylinder, die Claves. Man spielt sie, indem man einen Zylinder auf den anderen schlägt – scheinbar einfach, doch legen sie den Grundrhythmus der Musik fest und verlangen von ihrem Spieler ein hohes Mass an Rhythmus- und Taktgefühl.

Sie alle haben ihre Jugendzeit bereits lange hinter sich. Der älteste unter ihnen zählt mittlerweile fast achtzig Jahre, doch die von der Gicht gezeichneten Hände halten die Claves noch so sicher und fest wie damals. Ein waches Lächeln huscht aus dem von der Sonne zerfurchten Gesicht, ein Funkeln in seinen Augen, als der Kellner eine Flasche ‚Havanna Club‘ auf den kleinen Hocker neben der Bühne stellt. Es wird still an den Tischen, als die ersten melodischen Schläge der Claves in den Raum gleiten, bevor Tres, Bongos, Conga und Bass ihrem hölzernen Gesang folgen. Ein kurzer Applaus von der touristischen Minderheit – ja, den ‘Chan Chan‘ kennen und lieben sie alle. „El cariño que te tengo no te lo puedo negar“ – Die Zuneigung, die ich zu dir habe, kann ich nicht verneinen. Wie die meisten cubanischen Lieder spricht auch er von der immerwährenden Sehnsucht und Hoffnung nach Liebe. Die Interpretation ist nicht ganz werkgetreu. Die Bongos holpern, die Gitarre schrammelt und die Solostimme, ganz hinten aus der Kehle gequetscht, fällt ein wie ein fideler Trinkbruder. Das ist Son in seinem Ursprung. Musik, die sich selbst reflektiert, auseinander nimmt und neu zusammensetzt. Klänge, die Wunden und Verletzungen zeigen, dann wiederum schelmisch, gut gelaunt und stets mit einer Flasche Rum unter dem Arm unterwegs sind auf der Suche nach den schönen Dingen des Lebens.

Lange Zeit war der Son, der sich aus Elementen der afrikanischen Musik und spanischem Liedgut Ende des 19. Jahrhunderts formte, als Musik der unteren Volksschichten verachtet und zeitweise sogar verboten, bis er schliesslich in den zwanziger Jahren mit populären Gruppen wie dem Sexteto Nacional und dem Sexteto Habanero seinen endgültigen Durchbruch erlebte. Zu weltweiter Bekanntheit gelangte er jedoch erst durch Compay Segundo, dem grossen Gitarristen und Sänger des ‚Buena Vista Social Clubs‘.

Der ‚Buena Vista Social Club‘ hat mit grossem Erfolg einen fast schon vergessenen Cocktail wieder neu gemixt und in die westliche Welt geschüttet. Und für diesen Erfolg gibt es natürliche Erklärungen. Der biographische Autor des BVSC Thomas Mießgang schreibt dazu: „Es wurde eine Gruppe von Hörern erreicht, die die Industrie als ‚Sleeper‘ definiert: Menschen über 30, gebildet, einkommensstark, potenziell an Musik interessiert, aber von der Fülle ständig wechselnder neuer Namen und Stile überfordert. Diese Schläfer sind aufgewacht und lassen sich von dem hochprozentigen Cocktail aus tropischem Sozialismus, undomestizierter Lebensgier und tränenseeliger Nostalgie nach einer Welt von gestern berauschen.“

„Ja, ich habe Compay ein paar Mal getroffen und wir haben auch zusammen Musik gemacht, aber das ist schon lange her.“ Der Alte schüttet sich noch einen Rum ein – wie in jeder kurzen Pause, die sich das Sexteto nach drei bis vier Liedern gönnt. „Damals waren wir noch jung und haben nächtelang Rum getrunken, Zigarren geraucht, gespielt und gesungen. Der ’sabor‘ war allgegenwärtig.“

Zum ersten Mal treffe ich auf dieses Wort: sabor. Mit ‚Geschmack‘ ist es nur unzureichend übersetzt. Sabor ist ein Schlüsselbegriff der kubanischen Musik und meint viel mehr: die Würze des Klanges, die Erotik eines verzögerten Trommelschlages, die Reibungshitze zwischen den Instrumenten, die Trance, wenn die Musik beginnt, die Musiker zu spielen. „Ohne den sabor kannst du die Musik vergessen, den Tanz, den Sex – einfach alles.“

Ja, vom weltweiten Ruhm des ‚Buena Vista Social Clubs‘ hat er gehört. Aber nicht viel. Was zählt schon Weltruhm in einer Stadt, die 24 Stunden mit sich selbst beschäftigt ist, ihre Wunden leckt, ihre Leiden pflegt und ihre Exzesse auskostet? Der Alte hebt sich von seinem Hocker und schlurft zurück auf die Bühne. Mittlerweile sind die meisten Touristen in ihre Hotels zurückgekehrt oder auf der Suche nach anderen Vergnügungen weitergezogen. Nur noch wenige Tische, um die sich einige Einheimische gruppiert haben. Einige, die gespannt und andächtig auf die nicht enden wollenden Zugaben des kleinen Orchesters warten; andere, die besoffen über ihrem Barhocker zusammengesunken sind oder in ihr halbleeres Rumglas starren. Sie sind wie die Stadt selbst – immer eine Spur zu heftig, zu unkontrolliert, zu risikofreudig. Es ist der Wesenskern des Kubanischen, hat der grosse kubanische Autor Lézama Lima einmal geschrieben, eine bereits gewonnene Partie ständig von neuem aufs Spiel zu setzen.

Noch einmal schlagen die Claves zum letzten Gebet:
‚Lagrimas negras‘ – schwarze Tränen. Die Saiten der Tres singen von Wehmut und Sehnsucht und verkünden ein letztes Mal an diesem Abend den sabor… dieses schwer definierbare Gefühl, das sich einstellt, wenn man Musik direkt aus der Quelle schöpft.

Dann ist Stille.

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Cuba libre

Abends, wenn flackerndes Neonlicht die Hitze des Tages endlich erlöst, wird es langsam voll in den Strassen Havannas. Menschen von irgendwo her nach irgendwo hin – Menschen unterschiedlichster Hautfarben und Herkünfte, die im Schatten der Häuserzeilen ihren Weg nehmen. Kann sich Havanna auch in der Grösse mit anderen Metropolen der Welt nicht messen, so übt die Hauptstadt Cubas jedoch jene Faszination aus, die so manch einer auf seiner Suche nach dem Geheimnisvollen und Ursprünglichen zu finden hofft.

Hier scheint die Zeit einen jahrzehntelangen Stillstand erlebt zu haben. Die wenigen Autos, die auf den Strassen unterwegs sind, stammen oft noch aus der Geburtszeit der Revolution und werden von ihren Besitzern mit viel Mühe und Improvisation am Leben erhalten. Zuckerrohrpressen aus alter Zeit zerquetschen noch heute wie vor hundert Jahren die langen Rohrstangen zu einem schmackhaften, aber sehr süssen Saft und an manchen Häuserfassaden findet man noch heute die Einschusslöcher aus revolutionären Zeiten.

Auf dem ‚Malecon‘, der Hafenpromenade der Stadt, schlendern die ersten Pärchen, bevor sie sich irgendwo auf der Kaimauer niederlassen und ineinander versinken. Die ‚calle obispo‘ im Zentrum ist jetzt auch hoffnungslos überfüllt. Musiker, die ihre Instrumente in die nächste Bar tragen, vom Rum angetrunkene Jugendliche, alte Männer, die an wackligen Holztischen in ihr Dominospiel vertieft sind und Touristen auf der Suche nach einer Bar, einem Restaurant oder nach Liebe. Und die ‚jineteras’… Mädchen und junge Frauen, die bereit sind, für ein kleines Stück Wohlstand sich selbst zu opfern.

Und es sind nicht wenige, die trotz der wachenden Argusaugen der Polizei versuchen, westlichen Touristen ihre Dienste unmissverständlich nahezubringen. Viele davon sind noch minderjährig. ‚Über zwanzig gehörst du zum alten Eisen und niemand mehr will dich‘, wie mir eine von ihnen erklärte. Und weiter: ‚Wenn du jung und clever bist, verdienst du an einem Abend mehr als ein Universitätsprofessor in einem halben Jahr.‘ Und die Konkurrenz ist gross. Auf Cuba verhält es sich mit den Frauen wie mit Gorgonenhäuptern: Wo eine abhanden kommt, wachsen sofort zehn nach.

Wartende Menschen stehen vor den staatlichen Lebensmittelmärkten, den ‚bodegas‘, und nebenan kann man durch’s offene Fenster einem Zahnarzt bei seiner Arbeit zuschauen. Gerade mal den Gegenwert von ungefähr zehn bis fünfzehn Euro verdient ein Cubaner im Durchschnitt monatlich – ergänzt durch die ‚libreta‘, ein Lebensmittelbüchlein, das zum Kauf im Staatsladen berechtigt und ein Überleben für rund zwei Wochen ermöglicht. Jeder hier, ob der Bettler von der Strasse oder der Hotelier hat ein Recht auf Gesundheitsfürsorge – von der einfachen Zahnbehandlung bis hin zur Nierenverpflanzung. Das Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss kann ebenso kostenlos genutzt werden; der grösste Teil der Schüler und Studenten wird zudem in Internaten kostenlos verpflegt. Die meisten Kubaner leben in Wohnungen, die der Staat kostenlos zur Verfügung stellt, die Ausgaben für Gas, Wasser und Strom sind sehr gering und Müllabfuhr sowie Rundfunk- und Fernsehempfang sind kostenlos. Wer kein Zusatzeinkommen hat, zahlt keine Steuern, erhält aber Arbeitslosenunterstützung, falls er seinen Job verliert. Der Aufenthalt im Altenheim ist ebenso kostenlos wie der Tod.

„Damit der Mensch seine materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, ist es nicht nötig, seine Freiheiten zu opfern.“

Fidel Castros Worte – ein Hohn für diejenigen, die sich selbst als Beute in einem ohnehin schon gebeutelten Land sehen. Der wachsende Tourismus der vergangenen Jahre hat das Wohlstandsdenken in der Bevölkerung stark ansteigen lassen, und wer clever war, konnte in seinem Schatten Geschäfte machen. Als das tatsächlich auch zu funktionieren schien, erfand der Staat ein Gegengift, das die Cubaner bis dahin nicht einmal dem Namen her kannten: die Steuer. Und seitdem zerplatzten viele Träume von einem bescheidenen Wohlstand wieder wie Seifenblasen.

Doch der bewährte Überlebenswille rettete die Cubaner auch diesmal vor der enttäuschten Resignation. Während ihre Stadt langsam aufblüht, halten sie durch. In der Unschuld des Sozialismus dauert das meiste halt nur ein wenig länger und auch die Rumkneipe um die Ecke, wo der Doppelte zweieinhalb Peso kostet, wird irgendwann renoviert werden.

Fidel Castro lebt und mit ihm die Ideologie einer ganzen Generation. Bleibt nur zu hoffen, dass die Revolution ihre Früchte trägt und Vorreiter war für ein neues Cuba: Ein ‚vernünftiger‘ Kapitalismus mit stark sozialer Tendenz.

Viva la Revolución…

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Rudelgucken

Spätestens dann, wenn der Sportteil der Tageszeitung den Umfang eines Bestsellerromans erreicht hat, der Nachbar sein Auto mit der nationalen Flagge schmückt und den Grill auf Hochglanz poliert, regiert im Lande wieder einmal die unangefochtene Nummer eins des Sportadels: König Fussball.

Weder Kosten noch Mühen werden gescheut, um der sabbernden Fangemeinde die wenigen und kostbaren Tage des aristokratischen Sportereignisses so angenehm wie möglich zu gestalten. Adel verpflichtet. Die Fernsehanstalten buhlen mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht um die Übertragungsrechte der besten Spiele und damit um die Gunst der Zuschauer und so manche Sportmumie aus vorsinflutlichen Zeiten wird aus der finstersten Kellerecke hervorgekramt, um die Helden von heute mit mehr oder weniger qualifizierten Bemerkungen zu zensieren. Schön staubig – staubig schön.

Grillkohle, Nackensteaks und Kartoffelsalat feiern jetzt Hochsaison, und besagter Nachbar versichert mir, dass sein Vorrat an Thüringer Grillern bis zum Endspiel reichen wird – mindestens! Und gegen das Fußballfieber helfe am besten „viel trinken“, noch besser „ganz viel trinken“, am besten besorge man also gleich einige Fässchen von der besagten Wundermedizin. Und sicherheitshalber drei Kästen auf Reserve, damit man sich nicht später an der Tanke um den letzten Sixpack prügeln muss. Und und und… Hauptsache, es bleibt sport-feucht-fröhlich.

Doch seit der letzten Weltmeisterschaft schwebt ein neuer Trend über der Fußballfangemeinde, das „Public Viewing“. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das gemeinschaftliche Mitverfolgen vieler Zuschauer von live übertragenen, medialen Großereignissen auf Großbildwänden an öffentlichen Standorten; wörtlich übersetzt bedeutet es „Öffentliches Anschauen“. Igitt – wie schamlos. Dabei ist der vor zwei Jahren eingedeutschte Begriff nur eine denkbar schlechte Bezeichnung für etwas gar nicht so neues. Das Phänomen trat nämlich schon 1954 auf, als sich die Menschen von den wenigen Fernsehgeräten in den Schaufenstern der Warenhäuser und Kneipen versammelten, um in kollektiven Ballrausch zu verfallen.

Da hat sich also in den Jahren nicht viel geändert, außer dass die Fernsehgeräte mittlerweile zu Großbildwänden mutiert sind. Und dass sie jetzt nicht mehr Fernsehgeräte heißen, sondern „TV’s“, der Kartenvorverkauf zum „Ticketing“ umgetauft wurde, die freiwilligen Helfer als „Volunteers“ herumwuseln und die Reichen und Schönen in der „Hospility Zone“ Unterschlupf finden. Manche Marketing-Ausdrücke wirken wohl eher belustigend als informativ. „City dressing“ – das klingt mehr wie eine Salatsosse als nach dem Ausdruck für das Beflaggen einer Stadt. Aber egal, zur EM wird eben „Denglish“ gesprochen. Und jetzt noch das „Public Viewing“ – schon wieder so ein Anglizismus. In Amerika wird dieses Wort für die Aufbahrung von Toten benutzt – sicherlich ein guter Grund sich zu fragen, ob es denn nicht ein passenderes Wort für dieses Massenphänomen gibt. Bei einer landesweiten Umfrage eines bekannten Radiosenders wurde die beste Wortalternative für „Public Viewing“ gesucht und gefunden: Rudelgucken.

Rudelgucken – das klingt nicht nur schön deutsch, sondern lässt uns darüber hinaus noch in alten Jugendzeiten von Hordensaufen und Kollektivkotzen schwelgen. Zugleich weckt es einen der ältesten Urinstinkte des Menschen: das Bilden einer Gemeinschaft zwecks gemeinsamer Ziele. War es in frühen und frostigen Zeiten noch der nackte Überlebenswillen, der unsere Vorfahren am Lagerfeuer aneinanderrücken ließ, rotten sich die Menschen heutzutage aus anderen Beweggründen zusammen. Dabei gehen die Fussballfans unter ihnen nicht nur eine schon beinahe metaphysische Verbindung untereinander ein, sondern auch mit ihrem Land nebst dem dazugehörigen Team.

Kein Michael Ballack, kein Miroslav Klose und auch kein Jens Lehmann gewinnt das Spiel allein – sie alle brauchen ein Team, um ihr Ziel zu erreichen. Wir auch, und wie könnte Gemeinschaftssinn und Vaterlandstreue besser zum Ausdruck gebracht werden als mit Deutschlandfahne bewaffnet und einskommafünf Promille im Blut im Sturm auf die Fußballbastille zu blasen. Sozusagen im kollektiven Rudelrausch.

Dass der reibungslose Biernachschub dabei wichtiger ist als der fein gespielte Doppelpass – wen interessiert das schon? Denn derjenige, für den Fußball „nur“ ein Spiel ist, ist beim Rudelgucken bestens aufgehoben.

Alles Fußball oder was…?

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