Einigkeit macht stark.
1957. Deutschland im Atem des Wirtschaftswunders. In mehreren Betrieben der Bundesrepublik Deutschland wird die 45-Stunden-Woche eingeführt und die ersten rund 10.000 Wehrpflichtigen rücken in die Bundeswehrkasernen ein. Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Darin wird die Zugewinngemeinschaft als gesetzlicher Güterstand in der Ehe eingeführt. Außerdem wird entschieden, daß Männern weiterhin bei Uneinigkeit in Bezug auf die Kindererziehung einen ‚Stichentscheid‘ haben. In Garching bei München geht als erstes bundesdeutsches Kernkraftwerk ein Forschungsreaktor in Betrieb, Willi Brandt wird zum regierenden Bürgermeister von West-Berlin gewählt und das Deutsche Fernsehen zeigt mit seiner eigenen Filmproduktion ‚Der Richter und sein Henker‘ nach einem Roman von Friedrich Dürrenmatt den ersten abendfüllenden Spielfilm. Im selben Jahr geben sich meine Eltern das Ja-Wort.
2007. Deutschland in Atem. Der Orkan Kyrill fordert bundesweit elf Menschenleben und hunderte Verletzte. Insgesamt 45 Verhandlungstage sind angesetzt beim Prozess um die Rekruten-Misshandlungen in einer Coesfelder Kaserne, während Paris Hilton bereits im Knast sitzt. Begleitet von einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik findet im Ostseebad Heiligendamm der G8-Gipfel statt, die Verfassungsrichter untersagen heimliche Vaterschaftstests und die Emanzenzeitschrift ‚Emma‘ wird dreißig. Wir sind seit über einem Jahr Papst und ein Rock geht weiterhin durch’s Land – beide mehr oder weniger erfolgreich. Die Scheidungsrate liegt bei über 50 Prozent. Und meine Eltern feiern goldene Hochzeit.
Ein halbes Jahrhundert dazwischen. Ein halbes Jahrhundert Freude und Leid gleichermassen. Damals schwamm ich noch in Abrahams Wurstkessel und kenne daher die ‚ersten Stunden‘ nur aus Erzählungen.
Zeit für sich haben sie nur ganz wenig gehabt. Die 70-Stunden-Woche war die Regel, manchmal auch mehr. Nur der Sonntag blieb, um vom Alltagsleben Abstand zu nehmen. Hin und wieder mal mit dem Picnic-Korb in’s Grüne oder zu Kaffee und Kuchen bei Muttern. Das war’s schon, und oft genug passierte auch gar nichts, weil sie von der Woche viel zu geschafft waren. Viel zu wenig Zeit, nicht nur für den Luxus des Nichtstuns – selbst zum Streiten reichte es meistens nicht. Natürlich gab’s auch mal Probleme. Aber nicht viele. Und wenn, dann auch nicht von den Selbstangerührten oder solchen, die nicht wirklich welche sind. Und für den Rest ergab sich immer eine Lösung. Einigkeit hat stark gemacht.
Der erste Urlaub mit dem Goggomobil: Sieben Stunden Landstrasse bis zum ersten Möwengelächter kurz vor der holländischen Küste. Das Meer kannten sie bis dahin nur von Bildern und Erzählungen. Nach drei Tagen ging’s auch schon wieder zurück. Unfreiwillig, weil der Sonnenbrand das Liegen im Zelt unerträglich machte. Dass man am Meer um ein vielfaches schneller verbrennt als im Landesinneren… woher sollten sie das auch wissen – ohne Fernseher und Internet und ohne jegliche polyglotte Erfahrung? Aber immerhin vier Räder und ein Dach gegen den Regen. Das war nach den Jahren auf dem Motorrad fast wie der päpstliche Segen für einen Provinzpfaffen.
Aber Ferien blieben die Ausnahme; zumindest solche, in denen nicht gearbeitet wurde. Fast drei Jahre dauerte es vom ersten Spatenstich bis zur Begrünung des Gartens. Mich gab’s immer noch nicht, aber immerhin stand ich schon zur Debatte. Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und ein Kind zeugen – immer hübsch der Reihe nach. Auch mal wieder Urlaub – diesmal mit dem Käfer. Einer der ersten Export-Modelle mit grosser Heckscheibe. Ein 59’er in dunkelblau. Heute wär’s wohl ein nacht- oder tiefseeblaumetallic, wenn auch nicht mehr auf einem Blech, das jeglichem Rosten trotzig entgegenlacht. Heiligs Blechle – der Provinzpfaffe hat seinen Opel ‚Olympia‘ sicher nicht halb so liebevoll gepflegt als mein dad seinen Käfer… päpstlicher Segen hin oder her. Das Zelt hatte mittlerweile Stehhöhe. Und das reichte dann auch für eine alpine Tour bis zum Lago Maggiore. Diesmal sogar ohne Sonnenbrand. Und auch für Streitigkeiten war die Zeit viel zu kostbar. Meinungsverschiedenheiten – das übliche halt, was man damals so üblich nannte. Aber auch nicht viele. Und eine Lösung fanden sie immer. Einigkeit machte stark.
Mittlerweile hab‘ ich nicht nur das Licht der Welt erblickt, sondern krabbel‘ auf diesem Erdball schon eine ganze Weile herum. Apropos Krabbeln… an den Käfer allerdings kann ich mich sogar schwächlich entsinnen; damals passte ich längenmässig locker auf die Rückbank. An Streitigkeiten meiner Eltern kann ich mich ebenso schwach erinnern. Ein Akt der Gewalt kam tatsächlich auch vor, doch kenne ich die Story vom Ei, das meinem Vater im Laufe dieses gemeinsamen halben Jahrhunderts an den Kopf flog, auch nur aus Erzählungen. Dabei hat meine mum wohl absichtlich so daneben gezielt, dass anschliessend einzig die Wand gereinigt werden und mein Vater kein Aspirin schlucken musste.
Und mittlerweile haben sie ’nen Peugeot ‚Partner‘. Der Name ist sinnig und passt wie die Faust auf’s Auge. Sie waren Partner, sind Partner und werden auch weiter Partner sein. Für Streitigkeiten ist ihnen die Zeit viel zu kostbar. Bis auf das übliche. Fast so wie damals. Und eine Lösung findet sich immer – nun ja, fast immer. Manchmal fragen sie tatsächlich auch mich. Einigkeit macht stark.
Aber etwas passendes zu ihrem grossen Tag ist mir noch immer nicht eingefallen. Revanchieren, wie ich das möchte, kann ich mich eh‘ nicht. Die Tatsache, dass ich noch immer von ihnen lerne, lässt mich wieder einmal darüber nachdenken, dass ich ohne sie nicht zu dieser Harmoniebedürftigkeit gelangen konnte, wie ich sie seit Jahren in mir trage. Für Streitigkeiten ist mir die Zeit zu kostbar. Bis auf das übliche halt. Eine Lösung findet sich fast immer. Und wenn nicht, dann frag‘ ich noch manchmal sie.
Einigkeit macht stark.
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