Archiv der Kategorie: Spurensuche

Der Vulkan

Nie zuvor in meinem Leben habe ich so gefroren.

Wir befanden uns circa 2400 Meter über dem Meeresspiegel in einem hübschen kleinen Hotel, dessen Holzverschalung liebevoll in zartrosa getüncht war, und versuchten einzuschlafen. Das Abendessen bestand wie gewöhnlich aus ‚arroz con pollo‘ begleitet von einigen Dosen des schmackhaften einheimischen Bieres. Den ganzen Tag waren wir fast ausschliesslich auf unbefestigten, aber landschaftlich reizvollen Nebenstrecken im Landesinneren unterwegs; am kommenden Morgen sollte es dann in aller Frühe hinauf zum Vulkan ‚Irazu‘ gehen.

Costa Rica – die Schweiz Mittelamerikas. Kulturell ein Land der jungen Generation und der vermischten Hautfarben bietet es jedoch dem Naturverbundenen die Schönheiten eines ganzen Kontinents auf einer Fläche von der Grösse Niedersachsens. Architektonische Highlights und jahrtausendealte Kulturen sucht man hier vergebens – die ältesten Gebäude stammen aus dem 16. Jahrhundert seit der Entdeckung durch die Spanier und begeistern selbst durch die Linse der Kamera nur wenig. Vom tropischen Trockenwald in der Küstenebene bis zum vulkanischen Urgestein braucht es jedoch nicht länger als drei Stunden Autofahrt, und dabei werden nicht weniger als fünf verschiedene Klimazonen durchquert. Bergnebelwälder in immerwährender Feuchtigkeit und düsterem Licht liegen auf dem Wege wie auch lichte Tannenwälder, durch die sich die wichtigste Verbindung des Landes, die Panamericana, hindurchschlängelt. Und immer wieder diese grossen amerikanischen Trucks, die an den Steigungen der Traumstrasse Latein- und Mittelamerikas den Verkehr beinahe zum Erliegen bringen.

Fast mittig im Lande im ‚meseta central‘ liegt der höchstgelegene Vulkan des Landes, der ‚Irazu‘ auf einer Höhe von 3432 Metern über dem Meeresspiegel. Unscheinbar und gefahrlos schimmert das gelbgrüne, stark schwefelhaltige Wasser seiner Kraterseen in der frühen Morgensonne. Angeblich soll man von hier aus sogar sowohl den pazifischen als auch den atlantischen Ozean sehen können… ein Tatbestand, der jedoch eine erstklassige Fernsicht und dementsprechende Wetterverhältnisse voraussetzt und damit den meisten Kurzzeittouristen vorenthalten bleibt.

Die ganze Nacht haben wir kein Auge zugetan und selbst die herangeschafften zusätzlichen Wolldecken schafften es nicht, die innere Wärme der vorangegangenen Tage auszugleichen. Eine Woche bei feuchtschwülen 35 Grad und nicht einmal die Nacht brachte die ersehnte Abkühlung. Dagegen waren die Nächte im ‚meseta central‘ geradezu eisig; das Thermometer fiel auf sieben Grad, aber es erschien uns viel kälter und die gespeicherte Hitze der letzten Tage pochte unablässig unter der sich langsam abkühlenden Haut.

Frühmorgens nach dem obligatorischem Kaffee im Wasserglas machten wir uns auf den Weg zum Kraterrand in der Hoffnung, dass der Frühnebel der Sonne nicht lange standhalten würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Die seismologische Station lag bereits in der Sonne, als wir den Kraterpark erreichten und nur der unablässig pfeifende Wind hielt uns von gegenseitigen enthusiastischen Freudensbeurkundungen ab. Schwefelgeruch stieg in unsere Nasen und trotz der gewaltigen Böen erschien uns der Anblick der schroffen Felswände so, als wenn es eine Ewigkeit nichts gäbe, was sie verrücken könnte.

Es war ein wenig mehr als anderthalb Jahre später, als ich die Zeitung aufschlug und unter den kleingedruckten Schlagzeilen aus aller Welt folgende Zeilen las: „Costa Rica: Der Vulkan Irazu brach nach langer Zeit des Schweigens wieder aus und bedeckte die nahegelegene Hauptstadt San José mit einer vierzig Zentimeter dicken Ascheschicht.“

Die Chance, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, war eben so gross wie der berühmte Sechser im Lotto.

Aber nachdenklich hat es mich schon gemacht…

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Musica prohibida

Eine Liebeserklärung.

Sie sind zu sechst, und sie tauchen meist immer erst dann auf, wenn die meisten Gäste ihr Abendessen bereits beendet haben. Mit schlurfendem Gang bugsieren sie ihre Instrumente durch die Enge des kleinen Restaurants im Herzen von Havanna Vieja. Hier hin verirrt sich kaum ein Tourist; die Speisekarte beschränkt sich auf eine Handvoll einfacher Mahlzeiten und auch die spröde Aussenfassade verrät nichts über den Charme des offenen und mit unzähligen Rankblumen bepflanzten Innenhofes. Vielen Einheimische nutzen diesen Ort gerne, um bei Musik und einer Flasche Rum ihren Alltag für einen kurzen Augenblick vergessen zu können. Die wenigen Touristen, die nach hier gefunden haben, nippen gedankenversunken an ihrem Mojito oder diskutieren im Laufe zahlloser Gläser Cuba libre über ihre Eindrücke des vergangenen Tages.

Scheinbar unbemerkt haben die Musiker mittlerweile auf der kleinen Empore Platz genommen. Jeder von ihnen ist jetzt vollauf beschäftigt: Der Contrabassista wischt den Strassenstaub von seinem Instrument und der Congaspieler trommelt leise eine Melodie auf seiner mit Rinderhaut bespannten Standtrommel. Aus zerbeulten Behältern kommen Instrumente zum Vorschein, die schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz zu sein scheinen: eine abgegriffene Querflöte und die Tres, ein der Gitarre ähnliches kubanisches Saiteninstrument. Die Maracas – Rumbakugeln, deren Korpus noch aus Kürbissen besteht und deren Klang an das durchdringende Prasseln springender Kieselsteine erinnert. Und schliesslich zwei aus hartem und wohlklingendem Holz hergestellte Zylinder, die Claves. Man spielt sie, indem man einen Zylinder auf den anderen schlägt – scheinbar einfach, doch legen sie den Grundrhythmus der Musik fest und verlangen von ihrem Spieler ein hohes Mass an Rhythmus- und Taktgefühl.

Sie alle haben ihre Jugendzeit bereits lange hinter sich. Der älteste unter ihnen zählt mittlerweile fast achtzig Jahre, doch die von der Gicht gezeichneten Hände halten die Claves noch so sicher und fest wie damals. Ein waches Lächeln huscht aus dem von der Sonne zerfurchten Gesicht, ein Funkeln in seinen Augen, als der Kellner eine Flasche ‚Havanna Club‘ auf den kleinen Hocker neben der Bühne stellt. Es wird still an den Tischen, als die ersten melodischen Schläge der Claves in den Raum gleiten, bevor Tres, Bongos, Conga und Bass ihrem hölzernen Gesang folgen. Ein kurzer Applaus von der touristischen Minderheit – ja, den ‘Chan Chan‘ kennen und lieben sie alle. „El cariño que te tengo no te lo puedo negar“ – Die Zuneigung, die ich zu dir habe, kann ich nicht verneinen. Wie die meisten cubanischen Lieder spricht auch er von der immerwährenden Sehnsucht und Hoffnung nach Liebe. Die Interpretation ist nicht ganz werkgetreu. Die Bongos holpern, die Gitarre schrammelt und die Solostimme, ganz hinten aus der Kehle gequetscht, fällt ein wie ein fideler Trinkbruder. Das ist Son in seinem Ursprung. Musik, die sich selbst reflektiert, auseinander nimmt und neu zusammensetzt. Klänge, die Wunden und Verletzungen zeigen, dann wiederum schelmisch, gut gelaunt und stets mit einer Flasche Rum unter dem Arm unterwegs sind auf der Suche nach den schönen Dingen des Lebens.

Lange Zeit war der Son, der sich aus Elementen der afrikanischen Musik und spanischem Liedgut Ende des 19. Jahrhunderts formte, als Musik der unteren Volksschichten verachtet und zeitweise sogar verboten, bis er schliesslich in den zwanziger Jahren mit populären Gruppen wie dem Sexteto Nacional und dem Sexteto Habanero seinen endgültigen Durchbruch erlebte. Zu weltweiter Bekanntheit gelangte er jedoch erst durch Compay Segundo, dem grossen Gitarristen und Sänger des ‚Buena Vista Social Clubs‘.

Der ‚Buena Vista Social Club‘ hat mit grossem Erfolg einen fast schon vergessenen Cocktail wieder neu gemixt und in die westliche Welt geschüttet. Und für diesen Erfolg gibt es natürliche Erklärungen. Der biographische Autor des BVSC Thomas Mießgang schreibt dazu: „Es wurde eine Gruppe von Hörern erreicht, die die Industrie als ‚Sleeper‘ definiert: Menschen über 30, gebildet, einkommensstark, potenziell an Musik interessiert, aber von der Fülle ständig wechselnder neuer Namen und Stile überfordert. Diese Schläfer sind aufgewacht und lassen sich von dem hochprozentigen Cocktail aus tropischem Sozialismus, undomestizierter Lebensgier und tränenseeliger Nostalgie nach einer Welt von gestern berauschen.“

„Ja, ich habe Compay ein paar Mal getroffen und wir haben auch zusammen Musik gemacht, aber das ist schon lange her.“ Der Alte schüttet sich noch einen Rum ein – wie in jeder kurzen Pause, die sich das Sexteto nach drei bis vier Liedern gönnt. „Damals waren wir noch jung und haben nächtelang Rum getrunken, Zigarren geraucht, gespielt und gesungen. Der ’sabor‘ war allgegenwärtig.“

Zum ersten Mal treffe ich auf dieses Wort: sabor. Mit ‚Geschmack‘ ist es nur unzureichend übersetzt. Sabor ist ein Schlüsselbegriff der kubanischen Musik und meint viel mehr: die Würze des Klanges, die Erotik eines verzögerten Trommelschlages, die Reibungshitze zwischen den Instrumenten, die Trance, wenn die Musik beginnt, die Musiker zu spielen. „Ohne den sabor kannst du die Musik vergessen, den Tanz, den Sex – einfach alles.“

Ja, vom weltweiten Ruhm des ‚Buena Vista Social Clubs‘ hat er gehört. Aber nicht viel. Was zählt schon Weltruhm in einer Stadt, die 24 Stunden mit sich selbst beschäftigt ist, ihre Wunden leckt, ihre Leiden pflegt und ihre Exzesse auskostet? Der Alte hebt sich von seinem Hocker und schlurft zurück auf die Bühne. Mittlerweile sind die meisten Touristen in ihre Hotels zurückgekehrt oder auf der Suche nach anderen Vergnügungen weitergezogen. Nur noch wenige Tische, um die sich einige Einheimische gruppiert haben. Einige, die gespannt und andächtig auf die nicht enden wollenden Zugaben des kleinen Orchesters warten; andere, die besoffen über ihrem Barhocker zusammengesunken sind oder in ihr halbleeres Rumglas starren. Sie sind wie die Stadt selbst – immer eine Spur zu heftig, zu unkontrolliert, zu risikofreudig. Es ist der Wesenskern des Kubanischen, hat der grosse kubanische Autor Lézama Lima einmal geschrieben, eine bereits gewonnene Partie ständig von neuem aufs Spiel zu setzen.

Noch einmal schlagen die Claves zum letzten Gebet:
‚Lagrimas negras‘ – schwarze Tränen. Die Saiten der Tres singen von Wehmut und Sehnsucht und verkünden ein letztes Mal an diesem Abend den sabor… dieses schwer definierbare Gefühl, das sich einstellt, wenn man Musik direkt aus der Quelle schöpft.

Dann ist Stille.

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Cuba libre

Abends, wenn flackerndes Neonlicht die Hitze des Tages endlich erlöst, wird es langsam voll in den Strassen Havannas. Menschen von irgendwo her nach irgendwo hin – Menschen unterschiedlichster Hautfarben und Herkünfte, die im Schatten der Häuserzeilen ihren Weg nehmen. Kann sich Havanna auch in der Grösse mit anderen Metropolen der Welt nicht messen, so übt die Hauptstadt Cubas jedoch jene Faszination aus, die so manch einer auf seiner Suche nach dem Geheimnisvollen und Ursprünglichen zu finden hofft.

Hier scheint die Zeit einen jahrzehntelangen Stillstand erlebt zu haben. Die wenigen Autos, die auf den Strassen unterwegs sind, stammen oft noch aus der Geburtszeit der Revolution und werden von ihren Besitzern mit viel Mühe und Improvisation am Leben erhalten. Zuckerrohrpressen aus alter Zeit zerquetschen noch heute wie vor hundert Jahren die langen Rohrstangen zu einem schmackhaften, aber sehr süssen Saft und an manchen Häuserfassaden findet man noch heute die Einschusslöcher aus revolutionären Zeiten.

Auf dem ‚Malecon‘, der Hafenpromenade der Stadt, schlendern die ersten Pärchen, bevor sie sich irgendwo auf der Kaimauer niederlassen und ineinander versinken. Die ‚calle obispo‘ im Zentrum ist jetzt auch hoffnungslos überfüllt. Musiker, die ihre Instrumente in die nächste Bar tragen, vom Rum angetrunkene Jugendliche, alte Männer, die an wackligen Holztischen in ihr Dominospiel vertieft sind und Touristen auf der Suche nach einer Bar, einem Restaurant oder nach Liebe. Und die ‚jineteras’… Mädchen und junge Frauen, die bereit sind, für ein kleines Stück Wohlstand sich selbst zu opfern.

Und es sind nicht wenige, die trotz der wachenden Argusaugen der Polizei versuchen, westlichen Touristen ihre Dienste unmissverständlich nahezubringen. Viele davon sind noch minderjährig. ‚Über zwanzig gehörst du zum alten Eisen und niemand mehr will dich‘, wie mir eine von ihnen erklärte. Und weiter: ‚Wenn du jung und clever bist, verdienst du an einem Abend mehr als ein Universitätsprofessor in einem halben Jahr.‘ Und die Konkurrenz ist gross. Auf Cuba verhält es sich mit den Frauen wie mit Gorgonenhäuptern: Wo eine abhanden kommt, wachsen sofort zehn nach.

Wartende Menschen stehen vor den staatlichen Lebensmittelmärkten, den ‚bodegas‘, und nebenan kann man durch’s offene Fenster einem Zahnarzt bei seiner Arbeit zuschauen. Gerade mal den Gegenwert von ungefähr zehn bis fünfzehn Euro verdient ein Cubaner im Durchschnitt monatlich – ergänzt durch die ‚libreta‘, ein Lebensmittelbüchlein, das zum Kauf im Staatsladen berechtigt und ein Überleben für rund zwei Wochen ermöglicht. Jeder hier, ob der Bettler von der Strasse oder der Hotelier hat ein Recht auf Gesundheitsfürsorge – von der einfachen Zahnbehandlung bis hin zur Nierenverpflanzung. Das Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss kann ebenso kostenlos genutzt werden; der grösste Teil der Schüler und Studenten wird zudem in Internaten kostenlos verpflegt. Die meisten Kubaner leben in Wohnungen, die der Staat kostenlos zur Verfügung stellt, die Ausgaben für Gas, Wasser und Strom sind sehr gering und Müllabfuhr sowie Rundfunk- und Fernsehempfang sind kostenlos. Wer kein Zusatzeinkommen hat, zahlt keine Steuern, erhält aber Arbeitslosenunterstützung, falls er seinen Job verliert. Der Aufenthalt im Altenheim ist ebenso kostenlos wie der Tod.

„Damit der Mensch seine materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, ist es nicht nötig, seine Freiheiten zu opfern.“

Fidel Castros Worte – ein Hohn für diejenigen, die sich selbst als Beute in einem ohnehin schon gebeutelten Land sehen. Der wachsende Tourismus der vergangenen Jahre hat das Wohlstandsdenken in der Bevölkerung stark ansteigen lassen, und wer clever war, konnte in seinem Schatten Geschäfte machen. Als das tatsächlich auch zu funktionieren schien, erfand der Staat ein Gegengift, das die Cubaner bis dahin nicht einmal dem Namen her kannten: die Steuer. Und seitdem zerplatzten viele Träume von einem bescheidenen Wohlstand wieder wie Seifenblasen.

Doch der bewährte Überlebenswille rettete die Cubaner auch diesmal vor der enttäuschten Resignation. Während ihre Stadt langsam aufblüht, halten sie durch. In der Unschuld des Sozialismus dauert das meiste halt nur ein wenig länger und auch die Rumkneipe um die Ecke, wo der Doppelte zweieinhalb Peso kostet, wird irgendwann renoviert werden.

Fidel Castro lebt und mit ihm die Ideologie einer ganzen Generation. Bleibt nur zu hoffen, dass die Revolution ihre Früchte trägt und Vorreiter war für ein neues Cuba: Ein ‚vernünftiger‘ Kapitalismus mit stark sozialer Tendenz.

Viva la Revolución…

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Running with the dog

Gibt es noch Wildhunde auf dieser Erde?

Ja, aber der Bestand ist bedroht – nur noch 500 Tiere werden in Namibia gezählt. Der freundliche Killer, gerühmt wegen seines Jagderfolgs, ist selten geworden. In Relation zu seinem Gewicht besitzt er die grösste Beisskraft im Reich der wilden Tiere. Kein anderes afrikanisches Raubtier jagt effizienter als der Wildhund und während beispielsweise Löwinnen nur jeden zehnten Versuch mit einem Kill beenden, führt bei ihnen jeder zweite Jagdanlauf zum Ziel. Wer also könnte mir besser und effizienter die Schönheiten Namibias nahebringen als ein Wildhund. Einer, der auf ‚du und du‘ mit all den Gegebenheiten lebt, das ein Land, welches im Prinzip nur aus Wüsten besteht, bieten kann. Namibia – ein Land, das seit fast zwei Jahren keinen nennenswerten Regen mehr erlebte. Eine Wüste, deren Bewohner dem Übel trotzig entgegen strotzen und auf die kommende Regenzeit hoffen. Ein Land voller Kontraste und Widersprüche, mit seiner einzigartigen Mischung aus afrikanischen und europäischen Einflüssen. Namibia, das „Land of the Brave“.

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Fast 18 Jahre liegt meine letzte Reise ins südliche Afrika zurück, aber die Erinnerungen, als ich mit ‚drifters‘ durch das Okavangodelta getourt bin, haben mich wach gehalten. Nun ja, damals waren die Camps noch ‚back to basic‘ – nur ein Holzschild „Botswana Camp Site“ an einem Mopanebaum erlaubte uns, die Zelte aufzuschlagen und dann wurde erst mal ein Loch gegraben, in das man kacken konnte. Namibia ist anders. In Namibia musst du kein Loch graben. In Namibia haben die Camps Toiletten, Stromanschluss und in den allermeisten Fällen sogar einen pool. Das Land mit der höchsten Lebensqualität in ganz Afrika, und trotzdem gilt auch hier die wichtigste Regel zu beachten, die mir in den Jahren prägend in Erinnerung geblieben ist: „Listen to your Guide“.

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Auch wenn die Umgebung manchmal vorgaukelt, man befinde sich inmitten der kuscheligen Sicherheit daheim, gelten für den afrikanischen Kontinent ganz andere Regeln. Das heisst zwar nicht, dass man dort nun ständig lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt wäre, aber es schadet nicht, die wenigen – ganz besonderen Vorsichtsmassnahmen zu beachten. Anders als in Europa besteht die Fauna auch aus giftigen und für Leib und Leben gefährlichen Tieren, wenn auch ein Zusammentreffen mit den meisten ziemlich unwahrscheinlich ist. Denn es liegt in der Natur der Tiere, dem Menschen auszuweichen, wann immer es möglich ist. Weder Schlangen noch Skorpione oder sonstwelches Viehzeug greift grundlos an. Dies sollte man beherzigen, dann sind Sandalen an den Füssen auch für den Touristen, der vorausschauend auf seine Tritte achtet, kein Problem. Und von der Grösse sollte man sich nicht täuschen lassen: Fast jedes noch so unscheinbare Geschöpf der afrikanischen Tierwelt ist im Zweifel flinker als du – daher ist es ratsam, schneller rennen zu können als der langsamste deiner Mitreisenden.

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Campen ist im ganzen Land problemlos möglich, und das auch ohne Zäune oder Stacheldraht. Warum? Auch für die gefährlichste Raubkatze ist das Zelt einfach nur ein uninteressanter Steinhaufen, und ohne besonderen Grund wird kein Tier diese Zone betreten. Besondere Gründe wären beispielsweise die Lagerung von Nahrungsmitteln; dass man keine fleischigen Überreste des Abendessens hortet, versteht sich von selbst, aber ebenso sollten Früchte, insbesondere Zitrusartige vor dem Zelt bleiben, denn ein Elefant neben dem Bett verdirbt einem garantiert die Nachtruhe. Darüber hinaus ist die Verpflegung so gut und reichlich, dass man erst gar nicht in die Versuchung kommt, Essen im Zelt zu deponieren.

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Namibia ist hinter der Mongolei das bevölkerungsärmste Land der Erde; die Chance, einem kapitalem Verbrechen zum Opfer zu fallen ist vergleichsweise sehr gering. Trotzdem gelten auch hier die Vorsichtsmassnahmen, die für alle Länder gelten, in denen Armut und Reichtum eng beieinander leben: Lächele, aber sei auf der Hut. Namibia war und ist das Land mit den weltweit größten Einkommensunterschieden. Die vor der Plautze baumelnde digicam ist eben so kontraproduktiv wie die lässig über der Schulter hängende Luxustasche. Beherzigt man dies, wird ein Aufenthalt in Namibia zu einem unvergesslichen Erlebnis werden; vor allem, wenn man ‚back to basic‘ unterwegs ist. Und die comfortzone nature hat noch weit mehr zu bieten als abendliche Lagerfeuerromantik.

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Wer mit dem Zelt reist, weiss, worauf er sich einlässt. Der Umstand, dabei mit einer Gruppe unterwegs zu sein, fordert ein Mindestmass an Teamgeist und Mithilfe bei den alltäglichen Dingen des Campingalltags. Die Guides sind auf tatkräftige, helfende Hände angewiesen, sei es beim Aufbau des Camps oder bei der Zubereitung der Mahlzeiten. Die Jungs geben sich alle Mühe, den Gästen die Tour so angenehm wie nur irgend möglich zu machen, aber sie haben nur vier Arme. Täglich muss das Fahrzeug be- und entladen werden – vor allem die schweren Zelte auf dem Dach zu verstauen bringt die Wilddogs manchmal an ihre Grenzen.

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Geschlafen wird in einfachen, stabilen Zelten, die ganz easy und schnell auf- und abzubauen sind. Hier gilt in besonderem Maß der Blick auf das bereits erwähnte krabbelnde Viehzeug: Vorsicht, wohin man greift, wohin man tritt und wohin man sich setzt oder legt! Die Schuhe gehören in’s Zelt und nicht davor, und man sollte sie sicherheitshalber vor dem Anziehen ausschütteln. Gerade Skorpione nutzen nachts gerne die Gelegenheit, sich ein warmes Schlafplätzchen zu suchen. und so sollte man am Morgen auch beim Zusammenlegen der Zeltplane darauf achten, keinen dieser giftigen Gesellen versehentlich mit einzupacken. Darüber hinaus ist ein offenes Zelt eine Einladung für alle Vier- und Vielbeiner und daher ein no-go. Sollte man wirklich den abendlichen Blick auf den Sternenhimmel ohne störende Zeltbahn geniessen wollen, findet sich meist ein Platz auf dem Safari-Truck, wo man vor Übergriffen nächtlicher Räuber sicher ist. Ein Moskitonetz hilft, auch die kleinen Jäger abzuhalten.

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Die Campingplätze sind mit allem Notwendigen und meistens auch mit dem Luxus eines Pools ausgestattet, nur darf man hier keinen europäischen Standard erwarten. Dafür liegen sie landschaftlich überaus reizvoll. Die Naturnähe darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Camps nicht eingezäunt sind. Der Mensch steht zwar nicht auf dem Speisezettel der einheimischen Fauna, trotzdem ist davon abzuraten, nachts unnötige Spaziergänge in die Umgebung zu unternehmen.

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Listen to your Guide! Deinem Führer kannst und solltest du blind vertrauen. Er sieht garantiert mehr als du und teilt sein Wissen gerne mit dir. Wer eine Campingtour im südlichen Afrika unternimmt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass man den europäischen Standard hinter sich lässt, im Gegenzug aber mit Eindrücken belohnt wird, die weit über Naturschönheiten, Artenreichtum und kulturellen Begegnungen hinausgehen. Es ist das das besondere Gefühl, das sich einstellt, wenn man eine Reise direkt aus der Quelle schöpft.

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Danke ‚wilddogs‘! Ihr seid Profis! Ihr seid Wildhunde – eben die besten Spürnasen, in deren Hände ich mich jederzeit wieder begeben würde.