Der Vulkan

Nie zuvor in meinem Leben habe ich so gefroren.

Wir befanden uns circa 2400 Meter über dem Meeresspiegel in einem hübschen kleinen Hotel, dessen Holzverschalung liebevoll in zartrosa getüncht war, und versuchten einzuschlafen. Das Abendessen bestand wie gewöhnlich aus ‚arroz con pollo‘ begleitet von einigen Dosen des schmackhaften einheimischen Bieres. Den ganzen Tag waren wir fast ausschliesslich auf unbefestigten, aber landschaftlich reizvollen Nebenstrecken im Landesinneren unterwegs; am kommenden Morgen sollte es dann in aller Frühe hinauf zum Vulkan ‚Irazu‘ gehen.

Costa Rica – die Schweiz Mittelamerikas. Kulturell ein Land der jungen Generation und der vermischten Hautfarben bietet es jedoch dem Naturverbundenen die Schönheiten eines ganzen Kontinents auf einer Fläche von der Grösse Niedersachsens. Architektonische Highlights und jahrtausendealte Kulturen sucht man hier vergebens – die ältesten Gebäude stammen aus dem 16. Jahrhundert seit der Entdeckung durch die Spanier und begeistern selbst durch die Linse der Kamera nur wenig. Vom tropischen Trockenwald in der Küstenebene bis zum vulkanischen Urgestein braucht es jedoch nicht länger als drei Stunden Autofahrt, und dabei werden nicht weniger als fünf verschiedene Klimazonen durchquert. Bergnebelwälder in immerwährender Feuchtigkeit und düsterem Licht liegen auf dem Wege wie auch lichte Tannenwälder, durch die sich die wichtigste Verbindung des Landes, die Panamericana, hindurchschlängelt. Und immer wieder diese grossen amerikanischen Trucks, die an den Steigungen der Traumstrasse Latein- und Mittelamerikas den Verkehr beinahe zum Erliegen bringen.

Fast mittig im Lande im ‚meseta central‘ liegt der höchstgelegene Vulkan des Landes, der ‚Irazu‘ auf einer Höhe von 3432 Metern über dem Meeresspiegel. Unscheinbar und gefahrlos schimmert das gelbgrüne, stark schwefelhaltige Wasser seiner Kraterseen in der frühen Morgensonne. Angeblich soll man von hier aus sogar sowohl den pazifischen als auch den atlantischen Ozean sehen können… ein Tatbestand, der jedoch eine erstklassige Fernsicht und dementsprechende Wetterverhältnisse voraussetzt und damit den meisten Kurzzeittouristen vorenthalten bleibt.

Die ganze Nacht haben wir kein Auge zugetan und selbst die herangeschafften zusätzlichen Wolldecken schafften es nicht, die innere Wärme der vorangegangenen Tage auszugleichen. Eine Woche bei feuchtschwülen 35 Grad und nicht einmal die Nacht brachte die ersehnte Abkühlung. Dagegen waren die Nächte im ‚meseta central‘ geradezu eisig; das Thermometer fiel auf sieben Grad, aber es erschien uns viel kälter und die gespeicherte Hitze der letzten Tage pochte unablässig unter der sich langsam abkühlenden Haut.

Frühmorgens nach dem obligatorischem Kaffee im Wasserglas machten wir uns auf den Weg zum Kraterrand in der Hoffnung, dass der Frühnebel der Sonne nicht lange standhalten würde. Wir wurden nicht enttäuscht. Die seismologische Station lag bereits in der Sonne, als wir den Kraterpark erreichten und nur der unablässig pfeifende Wind hielt uns von gegenseitigen enthusiastischen Freudensbeurkundungen ab. Schwefelgeruch stieg in unsere Nasen und trotz der gewaltigen Böen erschien uns der Anblick der schroffen Felswände so, als wenn es eine Ewigkeit nichts gäbe, was sie verrücken könnte.

Es war ein wenig mehr als anderthalb Jahre später, als ich die Zeitung aufschlug und unter den kleingedruckten Schlagzeilen aus aller Welt folgende Zeilen las: „Costa Rica: Der Vulkan Irazu brach nach langer Zeit des Schweigens wieder aus und bedeckte die nahegelegene Hauptstadt San José mit einer vierzig Zentimeter dicken Ascheschicht.“

Die Chance, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, war eben so gross wie der berühmte Sechser im Lotto.

Aber nachdenklich hat es mich schon gemacht…

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Musica prohibida

Eine Liebeserklärung.

Sie sind zu sechst, und sie tauchen meist immer erst dann auf, wenn die meisten Gäste ihr Abendessen bereits beendet haben. Mit schlurfendem Gang bugsieren sie ihre Instrumente durch die Enge des kleinen Restaurants im Herzen von Havanna Vieja. Hier hin verirrt sich kaum ein Tourist; die Speisekarte beschränkt sich auf eine Handvoll einfacher Mahlzeiten und auch die spröde Aussenfassade verrät nichts über den Charme des offenen und mit unzähligen Rankblumen bepflanzten Innenhofes. Vielen Einheimische nutzen diesen Ort gerne, um bei Musik und einer Flasche Rum ihren Alltag für einen kurzen Augenblick vergessen zu können. Die wenigen Touristen, die nach hier gefunden haben, nippen gedankenversunken an ihrem Mojito oder diskutieren im Laufe zahlloser Gläser Cuba libre über ihre Eindrücke des vergangenen Tages.

Scheinbar unbemerkt haben die Musiker mittlerweile auf der kleinen Empore Platz genommen. Jeder von ihnen ist jetzt vollauf beschäftigt: Der Contrabassista wischt den Strassenstaub von seinem Instrument und der Congaspieler trommelt leise eine Melodie auf seiner mit Rinderhaut bespannten Standtrommel. Aus zerbeulten Behältern kommen Instrumente zum Vorschein, die schon seit Jahrzehnten in Familienbesitz zu sein scheinen: eine abgegriffene Querflöte und die Tres, ein der Gitarre ähnliches kubanisches Saiteninstrument. Die Maracas – Rumbakugeln, deren Korpus noch aus Kürbissen besteht und deren Klang an das durchdringende Prasseln springender Kieselsteine erinnert. Und schliesslich zwei aus hartem und wohlklingendem Holz hergestellte Zylinder, die Claves. Man spielt sie, indem man einen Zylinder auf den anderen schlägt – scheinbar einfach, doch legen sie den Grundrhythmus der Musik fest und verlangen von ihrem Spieler ein hohes Mass an Rhythmus- und Taktgefühl.

Sie alle haben ihre Jugendzeit bereits lange hinter sich. Der älteste unter ihnen zählt mittlerweile fast achtzig Jahre, doch die von der Gicht gezeichneten Hände halten die Claves noch so sicher und fest wie damals. Ein waches Lächeln huscht aus dem von der Sonne zerfurchten Gesicht, ein Funkeln in seinen Augen, als der Kellner eine Flasche ‚Havanna Club‘ auf den kleinen Hocker neben der Bühne stellt. Es wird still an den Tischen, als die ersten melodischen Schläge der Claves in den Raum gleiten, bevor Tres, Bongos, Conga und Bass ihrem hölzernen Gesang folgen. Ein kurzer Applaus von der touristischen Minderheit – ja, den ‘Chan Chan‘ kennen und lieben sie alle. „El cariño que te tengo no te lo puedo negar“ – Die Zuneigung, die ich zu dir habe, kann ich nicht verneinen. Wie die meisten cubanischen Lieder spricht auch er von der immerwährenden Sehnsucht und Hoffnung nach Liebe. Die Interpretation ist nicht ganz werkgetreu. Die Bongos holpern, die Gitarre schrammelt und die Solostimme, ganz hinten aus der Kehle gequetscht, fällt ein wie ein fideler Trinkbruder. Das ist Son in seinem Ursprung. Musik, die sich selbst reflektiert, auseinander nimmt und neu zusammensetzt. Klänge, die Wunden und Verletzungen zeigen, dann wiederum schelmisch, gut gelaunt und stets mit einer Flasche Rum unter dem Arm unterwegs sind auf der Suche nach den schönen Dingen des Lebens.

Lange Zeit war der Son, der sich aus Elementen der afrikanischen Musik und spanischem Liedgut Ende des 19. Jahrhunderts formte, als Musik der unteren Volksschichten verachtet und zeitweise sogar verboten, bis er schliesslich in den zwanziger Jahren mit populären Gruppen wie dem Sexteto Nacional und dem Sexteto Habanero seinen endgültigen Durchbruch erlebte. Zu weltweiter Bekanntheit gelangte er jedoch erst durch Compay Segundo, dem grossen Gitarristen und Sänger des ‚Buena Vista Social Clubs‘.

Der ‚Buena Vista Social Club‘ hat mit grossem Erfolg einen fast schon vergessenen Cocktail wieder neu gemixt und in die westliche Welt geschüttet. Und für diesen Erfolg gibt es natürliche Erklärungen. Der biographische Autor des BVSC Thomas Mießgang schreibt dazu: „Es wurde eine Gruppe von Hörern erreicht, die die Industrie als ‚Sleeper‘ definiert: Menschen über 30, gebildet, einkommensstark, potenziell an Musik interessiert, aber von der Fülle ständig wechselnder neuer Namen und Stile überfordert. Diese Schläfer sind aufgewacht und lassen sich von dem hochprozentigen Cocktail aus tropischem Sozialismus, undomestizierter Lebensgier und tränenseeliger Nostalgie nach einer Welt von gestern berauschen.“

„Ja, ich habe Compay ein paar Mal getroffen und wir haben auch zusammen Musik gemacht, aber das ist schon lange her.“ Der Alte schüttet sich noch einen Rum ein – wie in jeder kurzen Pause, die sich das Sexteto nach drei bis vier Liedern gönnt. „Damals waren wir noch jung und haben nächtelang Rum getrunken, Zigarren geraucht, gespielt und gesungen. Der ’sabor‘ war allgegenwärtig.“

Zum ersten Mal treffe ich auf dieses Wort: sabor. Mit ‚Geschmack‘ ist es nur unzureichend übersetzt. Sabor ist ein Schlüsselbegriff der kubanischen Musik und meint viel mehr: die Würze des Klanges, die Erotik eines verzögerten Trommelschlages, die Reibungshitze zwischen den Instrumenten, die Trance, wenn die Musik beginnt, die Musiker zu spielen. „Ohne den sabor kannst du die Musik vergessen, den Tanz, den Sex – einfach alles.“

Ja, vom weltweiten Ruhm des ‚Buena Vista Social Clubs‘ hat er gehört. Aber nicht viel. Was zählt schon Weltruhm in einer Stadt, die 24 Stunden mit sich selbst beschäftigt ist, ihre Wunden leckt, ihre Leiden pflegt und ihre Exzesse auskostet? Der Alte hebt sich von seinem Hocker und schlurft zurück auf die Bühne. Mittlerweile sind die meisten Touristen in ihre Hotels zurückgekehrt oder auf der Suche nach anderen Vergnügungen weitergezogen. Nur noch wenige Tische, um die sich einige Einheimische gruppiert haben. Einige, die gespannt und andächtig auf die nicht enden wollenden Zugaben des kleinen Orchesters warten; andere, die besoffen über ihrem Barhocker zusammengesunken sind oder in ihr halbleeres Rumglas starren. Sie sind wie die Stadt selbst – immer eine Spur zu heftig, zu unkontrolliert, zu risikofreudig. Es ist der Wesenskern des Kubanischen, hat der grosse kubanische Autor Lézama Lima einmal geschrieben, eine bereits gewonnene Partie ständig von neuem aufs Spiel zu setzen.

Noch einmal schlagen die Claves zum letzten Gebet:
‚Lagrimas negras‘ – schwarze Tränen. Die Saiten der Tres singen von Wehmut und Sehnsucht und verkünden ein letztes Mal an diesem Abend den sabor… dieses schwer definierbare Gefühl, das sich einstellt, wenn man Musik direkt aus der Quelle schöpft.

Dann ist Stille.

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Cuba libre

Abends, wenn flackerndes Neonlicht die Hitze des Tages endlich erlöst, wird es langsam voll in den Strassen Havannas. Menschen von irgendwo her nach irgendwo hin – Menschen unterschiedlichster Hautfarben und Herkünfte, die im Schatten der Häuserzeilen ihren Weg nehmen. Kann sich Havanna auch in der Grösse mit anderen Metropolen der Welt nicht messen, so übt die Hauptstadt Cubas jedoch jene Faszination aus, die so manch einer auf seiner Suche nach dem Geheimnisvollen und Ursprünglichen zu finden hofft.

Hier scheint die Zeit einen jahrzehntelangen Stillstand erlebt zu haben. Die wenigen Autos, die auf den Strassen unterwegs sind, stammen oft noch aus der Geburtszeit der Revolution und werden von ihren Besitzern mit viel Mühe und Improvisation am Leben erhalten. Zuckerrohrpressen aus alter Zeit zerquetschen noch heute wie vor hundert Jahren die langen Rohrstangen zu einem schmackhaften, aber sehr süssen Saft und an manchen Häuserfassaden findet man noch heute die Einschusslöcher aus revolutionären Zeiten.

Auf dem ‚Malecon‘, der Hafenpromenade der Stadt, schlendern die ersten Pärchen, bevor sie sich irgendwo auf der Kaimauer niederlassen und ineinander versinken. Die ‚calle obispo‘ im Zentrum ist jetzt auch hoffnungslos überfüllt. Musiker, die ihre Instrumente in die nächste Bar tragen, vom Rum angetrunkene Jugendliche, alte Männer, die an wackligen Holztischen in ihr Dominospiel vertieft sind und Touristen auf der Suche nach einer Bar, einem Restaurant oder nach Liebe. Und die ‚jineteras’… Mädchen und junge Frauen, die bereit sind, für ein kleines Stück Wohlstand sich selbst zu opfern.

Und es sind nicht wenige, die trotz der wachenden Argusaugen der Polizei versuchen, westlichen Touristen ihre Dienste unmissverständlich nahezubringen. Viele davon sind noch minderjährig. ‚Über zwanzig gehörst du zum alten Eisen und niemand mehr will dich‘, wie mir eine von ihnen erklärte. Und weiter: ‚Wenn du jung und clever bist, verdienst du an einem Abend mehr als ein Universitätsprofessor in einem halben Jahr.‘ Und die Konkurrenz ist gross. Auf Cuba verhält es sich mit den Frauen wie mit Gorgonenhäuptern: Wo eine abhanden kommt, wachsen sofort zehn nach.

Wartende Menschen stehen vor den staatlichen Lebensmittelmärkten, den ‚bodegas‘, und nebenan kann man durch’s offene Fenster einem Zahnarzt bei seiner Arbeit zuschauen. Gerade mal den Gegenwert von ungefähr zehn bis fünfzehn Euro verdient ein Cubaner im Durchschnitt monatlich – ergänzt durch die ‚libreta‘, ein Lebensmittelbüchlein, das zum Kauf im Staatsladen berechtigt und ein Überleben für rund zwei Wochen ermöglicht. Jeder hier, ob der Bettler von der Strasse oder der Hotelier hat ein Recht auf Gesundheitsfürsorge – von der einfachen Zahnbehandlung bis hin zur Nierenverpflanzung. Das Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Universitätsabschluss kann ebenso kostenlos genutzt werden; der grösste Teil der Schüler und Studenten wird zudem in Internaten kostenlos verpflegt. Die meisten Kubaner leben in Wohnungen, die der Staat kostenlos zur Verfügung stellt, die Ausgaben für Gas, Wasser und Strom sind sehr gering und Müllabfuhr sowie Rundfunk- und Fernsehempfang sind kostenlos. Wer kein Zusatzeinkommen hat, zahlt keine Steuern, erhält aber Arbeitslosenunterstützung, falls er seinen Job verliert. Der Aufenthalt im Altenheim ist ebenso kostenlos wie der Tod.

„Damit der Mensch seine materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, ist es nicht nötig, seine Freiheiten zu opfern.“

Fidel Castros Worte – ein Hohn für diejenigen, die sich selbst als Beute in einem ohnehin schon gebeutelten Land sehen. Der wachsende Tourismus der vergangenen Jahre hat das Wohlstandsdenken in der Bevölkerung stark ansteigen lassen, und wer clever war, konnte in seinem Schatten Geschäfte machen. Als das tatsächlich auch zu funktionieren schien, erfand der Staat ein Gegengift, das die Cubaner bis dahin nicht einmal dem Namen her kannten: die Steuer. Und seitdem zerplatzten viele Träume von einem bescheidenen Wohlstand wieder wie Seifenblasen.

Doch der bewährte Überlebenswille rettete die Cubaner auch diesmal vor der enttäuschten Resignation. Während ihre Stadt langsam aufblüht, halten sie durch. In der Unschuld des Sozialismus dauert das meiste halt nur ein wenig länger und auch die Rumkneipe um die Ecke, wo der Doppelte zweieinhalb Peso kostet, wird irgendwann renoviert werden.

Fidel Castro lebt und mit ihm die Ideologie einer ganzen Generation. Bleibt nur zu hoffen, dass die Revolution ihre Früchte trägt und Vorreiter war für ein neues Cuba: Ein ‚vernünftiger‘ Kapitalismus mit stark sozialer Tendenz.

Viva la Revolución…

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Rudelgucken

Spätestens dann, wenn der Sportteil der Tageszeitung den Umfang eines Bestsellerromans erreicht hat, der Nachbar sein Auto mit der nationalen Flagge schmückt und den Grill auf Hochglanz poliert, regiert im Lande wieder einmal die unangefochtene Nummer eins des Sportadels: König Fussball.

Weder Kosten noch Mühen werden gescheut, um der sabbernden Fangemeinde die wenigen und kostbaren Tage des aristokratischen Sportereignisses so angenehm wie möglich zu gestalten. Adel verpflichtet. Die Fernsehanstalten buhlen mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht um die Übertragungsrechte der besten Spiele und damit um die Gunst der Zuschauer und so manche Sportmumie aus vorsinflutlichen Zeiten wird aus der finstersten Kellerecke hervorgekramt, um die Helden von heute mit mehr oder weniger qualifizierten Bemerkungen zu zensieren. Schön staubig – staubig schön.

Grillkohle, Nackensteaks und Kartoffelsalat feiern jetzt Hochsaison, und besagter Nachbar versichert mir, dass sein Vorrat an Thüringer Grillern bis zum Endspiel reichen wird – mindestens! Und gegen das Fußballfieber helfe am besten „viel trinken“, noch besser „ganz viel trinken“, am besten besorge man also gleich einige Fässchen von der besagten Wundermedizin. Und sicherheitshalber drei Kästen auf Reserve, damit man sich nicht später an der Tanke um den letzten Sixpack prügeln muss. Und und und… Hauptsache, es bleibt sport-feucht-fröhlich.

Doch seit der letzten Weltmeisterschaft schwebt ein neuer Trend über der Fußballfangemeinde, das „Public Viewing“. Der Begriff stammt aus dem Englischen und beschreibt das gemeinschaftliche Mitverfolgen vieler Zuschauer von live übertragenen, medialen Großereignissen auf Großbildwänden an öffentlichen Standorten; wörtlich übersetzt bedeutet es „Öffentliches Anschauen“. Igitt – wie schamlos. Dabei ist der vor zwei Jahren eingedeutschte Begriff nur eine denkbar schlechte Bezeichnung für etwas gar nicht so neues. Das Phänomen trat nämlich schon 1954 auf, als sich die Menschen von den wenigen Fernsehgeräten in den Schaufenstern der Warenhäuser und Kneipen versammelten, um in kollektiven Ballrausch zu verfallen.

Da hat sich also in den Jahren nicht viel geändert, außer dass die Fernsehgeräte mittlerweile zu Großbildwänden mutiert sind. Und dass sie jetzt nicht mehr Fernsehgeräte heißen, sondern „TV’s“, der Kartenvorverkauf zum „Ticketing“ umgetauft wurde, die freiwilligen Helfer als „Volunteers“ herumwuseln und die Reichen und Schönen in der „Hospility Zone“ Unterschlupf finden. Manche Marketing-Ausdrücke wirken wohl eher belustigend als informativ. „City dressing“ – das klingt mehr wie eine Salatsosse als nach dem Ausdruck für das Beflaggen einer Stadt. Aber egal, zur EM wird eben „Denglish“ gesprochen. Und jetzt noch das „Public Viewing“ – schon wieder so ein Anglizismus. In Amerika wird dieses Wort für die Aufbahrung von Toten benutzt – sicherlich ein guter Grund sich zu fragen, ob es denn nicht ein passenderes Wort für dieses Massenphänomen gibt. Bei einer landesweiten Umfrage eines bekannten Radiosenders wurde die beste Wortalternative für „Public Viewing“ gesucht und gefunden: Rudelgucken.

Rudelgucken – das klingt nicht nur schön deutsch, sondern lässt uns darüber hinaus noch in alten Jugendzeiten von Hordensaufen und Kollektivkotzen schwelgen. Zugleich weckt es einen der ältesten Urinstinkte des Menschen: das Bilden einer Gemeinschaft zwecks gemeinsamer Ziele. War es in frühen und frostigen Zeiten noch der nackte Überlebenswillen, der unsere Vorfahren am Lagerfeuer aneinanderrücken ließ, rotten sich die Menschen heutzutage aus anderen Beweggründen zusammen. Dabei gehen die Fussballfans unter ihnen nicht nur eine schon beinahe metaphysische Verbindung untereinander ein, sondern auch mit ihrem Land nebst dem dazugehörigen Team.

Kein Michael Ballack, kein Miroslav Klose und auch kein Jens Lehmann gewinnt das Spiel allein – sie alle brauchen ein Team, um ihr Ziel zu erreichen. Wir auch, und wie könnte Gemeinschaftssinn und Vaterlandstreue besser zum Ausdruck gebracht werden als mit Deutschlandfahne bewaffnet und einskommafünf Promille im Blut im Sturm auf die Fußballbastille zu blasen. Sozusagen im kollektiven Rudelrausch.

Dass der reibungslose Biernachschub dabei wichtiger ist als der fein gespielte Doppelpass – wen interessiert das schon? Denn derjenige, für den Fußball „nur“ ein Spiel ist, ist beim Rudelgucken bestens aufgehoben.

Alles Fußball oder was…?

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Platzgeschichten

Volksfeste sind eigentlich gar nicht mein Ding, erinnern sie mich doch meist an die regionalen Schützentreffen in der unteren Sackeifel – nur mit dem Unterschied, dass die grünweissgestreiften Brüder zwar ihre Uniformen zuhause lassen, dafür aber ihre gesamte Sippschaft mitbringen. Während Oma am Karussell geduldig wartet, bis die Blagen zehn Chips lang im Kreis gefahren sind, steuert Papa schon schweissdurchtränkt die nächste Bölkbude an. Und Mutter bugsiert fünf Bratwürste durch die Menschenmenge und sucht die ganze Bagage. Vorsicht – heiss und fettig. Und laut und schrill. Und überhaupt. Wehe, wenn sie losgelassen…

Einmal im Jahr breche ich mein Gelübde. Genaugenommen in der letzten Juliwoche, wenn in der Stadt die Annakirmes stattfindet, werde ich zappelig. Eine ganze Woche lang liegt Düren im Rummelfieber und für so manchen Einheimischen gehören diese hohen Feiertage höher gefeiert als Weihnachten und Ostern zusammen. Hier trifft man sich. Zumindest, wenn man dazugehört oder dazugehören möchte. Und zwischen Geisterbahn und Backfischbude trifft man immer auf den ein oder anderen, den man sonst fast das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekommt. Die ersten sichtet man meist schon am Bierbüdchen wenige Schritte hinter dem Haupteingang und manche von ihnen sieht man an der gleichen Stelle ein paar Stunden später wieder.

Der Dürener Aborigine beginnt seine Tour für gewöhnlich am Bitburger (das ist das besagte Büdchen gleich am Haupteingang), geht dann über Warsteiner und Köstritzer bis zum Paulaner, um dann irgendwann am Bitburger von vorhin zu enden. Und dazwischen noch fünf Mühlenkölsch vom Fass, fünfzig Zentimeter Thüringer Rostbratwurst vom Gasgrill und drei Reibekuchen mit Apfelmus. Sozusagen eine rustikale Schlemmerreise durch die grossdeutschen Lande zusammengepfercht in knapp fünf jubeltrubelheiteren Stunden.

Dabei kann die Annakirmes auf eine lange Tradition zurückblicken. Der Krimi begann schon Anfang des 16. Jahrhunderts, als ein Aachener Steinmetz in Mainz ein Stückchen Schädeldecke einer bis dato Unbekannten mopste und selbiges bei den Franziskanern in Düren deponierte. So unbekannt schien diese allerdings doch nicht zu sein, da sich kurz darauf eine Mainzer Delegation in Bewegung setzte, um ihr geliebtes Requiem zurück in die Heimat zu holen. Dies hätten sie auch fast geschafft, wäre da nicht der Dürener Stadtrat gewesen. Was einmal in Düren ist, bleibt auch dort, und so reisten die Mainzer dann unverrichteter Dinge und mit leeren Händen wieder ab. Die Sache ging vor Gericht und letztendlich musste die päpstliche Gewalt entscheiden. Der heilige Stuhl entschied sich für Düren, was der Stadt nicht nur die Annakirche bescherte. Wallfahrten waren damals schwer in Mode und so pilgerten kurze Zeit später bereits Tausende in die kleine Stadt an der Rur. Mitte des 17. Jahrhunderts gesellte sich zum Gedenktag ein Markt um die Kirche – damals noch ohne Achterbahn, Höllenblitz oder sonstigen adrenalinerhöhenden Karussellattraktionen. Aber das gastronomische Geschäft blühte damals schon und so wurde der Annamarkt im Laufe der Jahre erst auf drei und dann sogar auf acht Tage erweitert.

Heute darf satte neun Tage lang mehr oder weniger durchgefeiert werden. Die ganz harten nehmen sich in dieser Zeit Urlaub und verbringen diesen dann auch grösstenteils auf dem Festplatz. An den Insidertreffpunkten, also den besagten Bölkbuden wird gezapft, gelacht, gequasselt, geguckt, gebaggert und eben gebölkt, gleich nebenan frittiert, gebacken, gegrillt, geschmatzt, genossen und gerülpst. Und zwischendurch schlangegestanden vor den Toilettenwagen. Ganz schlaue von auswärts schlagen sich in die nahegelegenen Büsche des Rurufers, die die Einheimischentrupps ausschliesslich nur zum Kollektivkotzen nach der einminütigen Cyber-Space-Tour aufsuchen. Tja, wer die Regeln nicht kennt, tritt irgendwann nicht nur in die Scheisse.

Dienstags ist Familientag und die meisten Fahrgeschäfte senken ihre sowieso schon überhöhten Preise auf ein bezahlbares Level. Leider bevölkern dann auch Scharen von Kinderwagen die Szene. Wer nicht gerade masochistisch veranlagt ist und keine blaugrünen Hacken mag, hält sich bis zum späteren Abend besser dort fern. Oder geht gleich donnerstags zum Gruppeninvasionstag, wenn Vereins-, Arbeits- und sonstige Kameraden in Herden zusammengerottet zum Sturm auf die Kirmesbastille blasen. Und wer dann noch nicht genug hat, lässt sich am Freitag vom grossen Brilliantfeuerwerk der Schausteller bespassen. Eintritt frei – die Sicht leider meistens nicht, und derjenige, der das Feuerspiel am abendlichen Provinzhimmel brilliant und vor allem ohne Sichtstörung geniessen möchte, schmeisst sich mit Sitzpolster und Sixpack bewaffnet auf eine der nahegelegenen Parkwiesen.

Mittlerweile pilgern jährlich weit mehr als eine Million Menschen zum Annafest und seit mehr als dreissig Jahren wird die Weltmeisterschaft im Kirsch-Kern-Weitspucken hier ausgetragen. Die Stadt kassierte in diesem Jahr stolze Eins-Komma-Zwei Millionen Euro Platzmiete von den Schaustellern, die sich um die Gunst eines Standplatzes geradezu zerfleischen. Schon der kleine Stand, wo man mit magnetischen Angeln kleine gelbe Plastikenten fischen kann, die lustig im Wasserbad herumflitzen, bezahlt fünfzehn Mille, um mit dabei sein zu dürfen. Da wunderts doch niemanden, dass man für einen nicht mal zweiminütigen Cyber-Space-Höllentrip in luftiger Höhe gleich um sieben Euro ärmer wird. Durch die Preise für ein frisch gezapftes steigt eh kein Mensch mehr, weil geschickterweise die Grösse der Behältnisse unterschiedlich gewählt werden. Bei Einsdreissig für’s Nullzweier beginnt der Spass, wenn auch die Krone etwas üppiger als gewohnt ausfällt. Am Stand gegenüber kostet der begehrte Saft dann schon glatte zwei Euro, dafür ist das Glas auch grösser und ausserdem bis weit über die Eichmarke gefüllt.

Nehmen wir mal die deutsche Durchschnittsfamilie, die am Sonntagnachmittag drei Stündchen über den Platz schlurft: Zwei Blagen unterschiedlichen Geschlechts, eines im Kindergartenalter, das andere hat sich mal gerade eben ins dritte Schuljahr gerettet; Papa fährt tagsüber Tiefkühllaster für Bofrost und Mutter bringt zweimal pro Woche die Nachbarwohnung auf Hochglanz. Da ist ein Fuffi viel Geld und mehr als schnell aufgebraucht, und darin ist weder Papa’s Fahrt mit der Alpina-Achterbahn noch die grosse Tüte frisch gebrannter Mandeln für die wartende Oma daheim enthalten. Einmal Geisterbahn für alle, Mutter darf mal auf’s Riesenrad und für die Kids gibts ’n Fünferabo mit dem Kinderkarussell. Anschliessend zehn Lose und den Griff in die Trostpreiskiste. Und dann noch Pommes und Zuckerwatte und Schlumpfeis. Und drei Helle für Papa, während er im Schatten diverser Bierbudensonnenschirme auf den Rest der Sippe warten muss. Den letzten Euro bekommt noch die Toilettenfrau – für Mutters schwache Blase und fürs Aufwischen von Sohnemanns plötzlich wieder zum Vorschein gekommen Pommes mit extraviel Mayo. Schliesslich will jeder an dem grossen Festplatzbraten mitmampfen.

Knapp fünfunddreissig Euro kosteten mich fünf volle Stunden Jahrmarktfreuden. Dafür gabs einen halben Meter Thüringer vom Gasgrill zu vier Euronen, drei Reibkuchen (mit Apfelmus!) für Zweifuffzig und die letzten drei Euro schluckte die Karussellfahrt mit dem überfüllten Sonderbus bis nach hause. Der ‚Rest‘ war schon fast vollständig verdunstet oder in der Kanalisation verschwunden.

Aber schön wars. Und vielleicht nehm ich nächstes Jahr Ende Juli sicherheitshalber mal ’ne Woche Urlaub…

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Oma so lieb

Ich gehe nicht oft an ihr Grab, weil ich Friedhöfe nicht mag. Die Kombination von frischem Erdgeruch, roten Grablichtern und Vergissmeinnicht dort liegt wie ein klitschnasser Teppich auf meinen Gedanken. Und denken tu ich ohne das alles auch oft genug an sie. Vor allem zu Karneval, als ich sie vor mehr als 20 Jahren tot vor ihrem Bett liegend gefunden habe. Damals war ich knapp 19. Mit dem Tod war ich bis dahin noch nie in Berührung gekommen. Jedenfalls nicht so nah. Ich wusste, dass sie irgendwann sterben wird, aber es kam so unvermittelt und plötzlich, dass ich keine Zeit hatte, intensiv darüber nachzudenken. Tod durch Gehirnschlag diagnostizierte der Arzt später. Ein schöner Tod, wie so mancher bemerken würde. Wenn man Sterben überhaupt so bezeichnen kann.

Als kleines Mädchen hat sie den ersten Weltkrieg miterlebt. Nur am Rande, aber sie wusste früh, was es heisst, Hunger zu haben. Ein Viertel Jahrhundert später hat das Schicksal dann erbarmungsloser zugeschlagen. Der Mann, den sie geliebt und kurz vor dem zweiten Weltkrieg geheiratet hat, kämpfte in Russland an vorderster Front. Sie las mir oft den Brief des Oberfeldwebels vor. Er starb ehrenvoll im Felde, wo ihn die tödliche Kugel traf. Die tödliche Kugel? Meine Grossmutter wusste, dass es nur die halbe Wahrheit war. Russische Kampfpanzer sind über den Schützengraben gerollt, in dem sich mein Grossvater und seine Kameraden verschanzt hatten. Nur wenige hatten überlebt und über die wahren Ereignisse berichtet. Meine Mutter war damals mit sechs Jahren noch zu klein, um das alles begreifen zu können. Sie kannte ihren Vater auch kaum. Nur zweimal hatte er Fronturlaub bekommen, und der dauerte auch nur wenige Tage.

Das Haus hat sie fast ohne fremde Hilfe wieder aufgebaut. Nach der Rückkehr aus der Evakuierung stand sie erst einmal vor einem grossen Haufen Schutt und Scherben, der einmal ihr zuhause gewesen war. Als Kriegerwitwe, Trümmerfrau, Alleinerziehende und Überlebende einer sinnlosen Menschen- und Materialschlacht vertraute meine Grossmutter nur noch auf Gott und auf sich selbst. Denn ausser den beiden hat ihr so gut wie niemand geholfen. Und dabei hätte sie beinahe auch noch ihr einziges Kind verloren. Im letzten Kriegsjahr erkrankte meine Mutter an Diphterie. So schlimm, dass der Arzt sie bereits aufgegeben hatte. Grossmutter hat weiter gekämpft – und gesiegt.

Sie wohnte im selben Ort wie meine Eltern und wie ich heute noch. Ein Siedlungshaus mit kleinen Fenstern und einem grossen Garten, der fast bis an die Rur reichte. Auf dem Hof hinter dem Haus existierte noch die Grube, worin die Fäkalien flossen, als es im Haus noch keine Toilette gab. Und der kleine Luftschutzbunker, der ihr zur Lagerung des Eingemachten diente. Sie hat bis zu ihrem Tod in diesem Haus gewohnt und ist auch dort gestorben. Das Dach wurde irgendwann mal erneuert, weil es an zu vielen Stellen undicht wurde. Sonst hatte sich im Laufe der Jahrzehnte nichts verändert. Sie feuerte mit Holz und Briketts und das Badewasser wurde einmal in der Woche auf dem Kohlenherd heiss gemacht. Hühner hatte sie, so lange ich zurückdenken kann. Ich fands lustig, ihnen im Garten die Würmer auszugraben. Weniger lustig wars allerdings, als Grossmutter ein Huhn griff, dieses durch mehrmaliges Rundschleudern betäubte und ihm mit einem gezielten Beilhieb den Kopf vom Rumpf trennte. Ich hab damals kein Hühnchen gegessen, nur die frischen Frühstückeier liebte ich über alles.

Ich liebte auch ihre Graupensuppe. Und die konnte nur Grossmutter so lecker zubereiten. Was genau sie enthielt, wird für immer ihr Geheimnis bleiben, aber auf jeden Fall gings vorher einmal querbeet durch den Gemüsegarten. Mir war das egal, Hauptsache, sie schmeckte lecker wie immer und es war kein Hühnerfleisch darin.

Und Gartenarbeit hab ich von ihr gelernt. Vor allem, wie man im Herbst nach der Kartoffelernte richtig umgräbt. Und zwar so, dass im Frühjahr möglichst spät möglichst wenig Unkraut hervorspriesst. Sie stand auch immer daneben und kontrollierte das. Mit dem Garten war sie eigen, wie auch mit manch anderen Dingen. Ich war ihr einziges Enkelkind und hatte bereit zu sein, wenn sie irgendetwas wichtiges brauchte. Und das waren im allgemeinen die Medikamente gegen Herzrasen, ihre Feodora-Vollmilchschokolade und Zigaretten. Ja, das Rauchen habe ich leider auch bei ihr gelernt. Wie so viele Kriegerwitwen hatte sie damals mit dem Rauchen angefangen. Eine Schachtel HB reichte genau zwei Tage. Später als pubertierender Bengel fand ich es immens toll, dass Oma mir hin und wieder ’ne Zigarette unter die Nase hielt und mich für die getane Gartenarbeit ‚belohnte‘. Natürlich belohnte sie mich auch anders, und ich hab von ihr so manchen Zehner zugesteckt bekommen.

Und ich durfte mich so richtig dreckig machen. Ob ich nun im Garten wühlte, die Briketts im Schuppen neu stapelte oder mit Freunden losstapfte, um an der Rur bewaffnet mit Einmachglas und Küchensieb Jagd auf Stichlinge und Molche zu machen – sie lächelte trotzdem, auch wenn ich mit schlammverkrusteten Gummistiefeln ins Haus stürmte, um ihr stolz meinen aktuellen Fang zu präsentieren. Damals fuhr ich noch Kettcar. Von meinem Elternhaus bis zu ihr warens nicht mal zehn Minuten, wenn ich in die Pedale trat. Zurück ein bisschen länger, aber da gings auch den Berg hoch. Manchmal durfte ich auch samt Kettcar über Nacht dort bleiben und dann schlief ich im Speicherzimmer. Dort, wo meine Eltern ihre ersten gemeinsamen Nächte verbracht hatten. Abends konnte ich das nahe gelegene Wehr hören und das sanfte stetige Plätschern des Wassers hat mich binnen Sekunden in den Schlaf gelullt. Aber da war ich auch schon übermüde, weil ich bei Grossmutter länger aufbleiben durfte als zuhause. Sie ging nie vor ein Uhr nachts ins Bett. Dafür brauchte sie ihren Mittagsschlaf zwischen eins und drei und wehe, ich hätte sie da gestört. Wie schon erwähnt, in manchen Dingen war sie eigen.

Natürlich hab ich sie nie Grossmutter genannt, sondern Oma. Und wie alle Omas hat sie sich auch irgendwann aufgemacht und mich allein gelassen. Ein Teil von ihr wird immer bei mir sein. Aber dass sie ihr Graupensuppenrezept nicht hinterlassen hat – das verzeih ich ihr so schnell nicht. Den Geschmack hab ich manchmal heute noch auf der Zunge liegen.

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Zeitreise

Einigkeit macht stark.

1957. Deutschland im Atem des Wirtschaftswunders. In mehreren Betrieben der Bundesrepublik Deutschland wird die 45-Stunden-Woche eingeführt und die ersten rund 10.000 Wehrpflichtigen rücken in die Bundeswehrkasernen ein. Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Darin wird die Zugewinngemeinschaft als gesetzlicher Güterstand in der Ehe eingeführt. Außerdem wird entschieden, daß Männern weiterhin bei Uneinigkeit in Bezug auf die Kindererziehung einen ‚Stichentscheid‘ haben. In Garching bei München geht als erstes bundesdeutsches Kernkraftwerk ein Forschungsreaktor in Betrieb, Willi Brandt wird zum regierenden Bürgermeister von West-Berlin gewählt und das Deutsche Fernsehen zeigt mit seiner eigenen Filmproduktion ‚Der Richter und sein Henker‘ nach einem Roman von Friedrich Dürrenmatt den ersten abendfüllenden Spielfilm. Im selben Jahr geben sich meine Eltern das Ja-Wort.

2007. Deutschland in Atem. Der Orkan Kyrill fordert bundesweit elf Menschenleben und hunderte Verletzte. Insgesamt 45 Verhandlungstage sind angesetzt beim Prozess um die Rekruten-Misshandlungen in einer Coesfelder Kaserne, während Paris Hilton bereits im Knast sitzt. Begleitet von einem der größten Polizeieinsätze in der Geschichte der Bundesrepublik findet im Ostseebad Heiligendamm der G8-Gipfel statt, die Verfassungsrichter untersagen heimliche Vaterschaftstests und die Emanzenzeitschrift ‚Emma‘ wird dreißig. Wir sind seit über einem Jahr Papst und ein Rock geht weiterhin durch’s Land – beide mehr oder weniger erfolgreich. Die Scheidungsrate liegt bei über 50 Prozent. Und meine Eltern feiern goldene Hochzeit.

Ein halbes Jahrhundert dazwischen. Ein halbes Jahrhundert Freude und Leid gleichermassen. Damals schwamm ich noch in Abrahams Wurstkessel und kenne daher die ‚ersten Stunden‘ nur aus Erzählungen.

Zeit für sich haben sie nur ganz wenig gehabt. Die 70-Stunden-Woche war die Regel, manchmal auch mehr. Nur der Sonntag blieb, um vom Alltagsleben Abstand zu nehmen. Hin und wieder mal mit dem Picnic-Korb in’s Grüne oder zu Kaffee und Kuchen bei Muttern. Das war’s schon, und oft genug passierte auch gar nichts, weil sie von der Woche viel zu geschafft waren. Viel zu wenig Zeit, nicht nur für den Luxus des Nichtstuns – selbst zum Streiten reichte es meistens nicht. Natürlich gab’s auch mal Probleme. Aber nicht viele. Und wenn, dann auch nicht von den Selbstangerührten oder solchen, die nicht wirklich welche sind. Und für den Rest ergab sich immer eine Lösung. Einigkeit hat stark gemacht.

Der erste Urlaub mit dem Goggomobil: Sieben Stunden Landstrasse bis zum ersten Möwengelächter kurz vor der holländischen Küste. Das Meer kannten sie bis dahin nur von Bildern und Erzählungen. Nach drei Tagen ging’s auch schon wieder zurück. Unfreiwillig, weil der Sonnenbrand das Liegen im Zelt unerträglich machte. Dass man am Meer um ein vielfaches schneller verbrennt als im Landesinneren… woher sollten sie das auch wissen – ohne Fernseher und Internet und ohne jegliche polyglotte Erfahrung? Aber immerhin vier Räder und ein Dach gegen den Regen. Das war nach den Jahren auf dem Motorrad fast wie der päpstliche Segen für einen Provinzpfaffen.

Aber Ferien blieben die Ausnahme; zumindest solche, in denen nicht gearbeitet wurde. Fast drei Jahre dauerte es vom ersten Spatenstich bis zur Begrünung des Gartens. Mich gab’s immer noch nicht, aber immerhin stand ich schon zur Debatte. Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und ein Kind zeugen – immer hübsch der Reihe nach. Auch mal wieder Urlaub – diesmal mit dem Käfer. Einer der ersten Export-Modelle mit grosser Heckscheibe. Ein 59’er in dunkelblau. Heute wär’s wohl ein nacht- oder tiefseeblaumetallic, wenn auch nicht mehr auf einem Blech, das jeglichem Rosten trotzig entgegenlacht. Heiligs Blechle – der Provinzpfaffe hat seinen Opel ‚Olympia‘ sicher nicht halb so liebevoll gepflegt als mein dad seinen Käfer… päpstlicher Segen hin oder her. Das Zelt hatte mittlerweile Stehhöhe. Und das reichte dann auch für eine alpine Tour bis zum Lago Maggiore. Diesmal sogar ohne Sonnenbrand. Und auch für Streitigkeiten war die Zeit viel zu kostbar. Meinungsverschiedenheiten – das übliche halt, was man damals so üblich nannte. Aber auch nicht viele. Und eine Lösung fanden sie immer. Einigkeit machte stark.

Mittlerweile hab‘ ich nicht nur das Licht der Welt erblickt, sondern krabbel‘ auf diesem Erdball schon eine ganze Weile herum. Apropos Krabbeln… an den Käfer allerdings kann ich mich sogar schwächlich entsinnen; damals passte ich längenmässig locker auf die Rückbank. An Streitigkeiten meiner Eltern kann ich mich ebenso schwach erinnern. Ein Akt der Gewalt kam tatsächlich auch vor, doch kenne ich die Story vom Ei, das meinem Vater im Laufe dieses gemeinsamen halben Jahrhunderts an den Kopf flog, auch nur aus Erzählungen. Dabei hat meine mum wohl absichtlich so daneben gezielt, dass anschliessend einzig die Wand gereinigt werden und mein Vater kein Aspirin schlucken musste.

Und mittlerweile haben sie ’nen Peugeot ‚Partner‘. Der Name ist sinnig und passt wie die Faust auf’s Auge. Sie waren Partner, sind Partner und werden auch weiter Partner sein. Für Streitigkeiten ist ihnen die Zeit viel zu kostbar. Bis auf das übliche. Fast so wie damals. Und eine Lösung findet sich immer – nun ja, fast immer. Manchmal fragen sie tatsächlich auch mich. Einigkeit macht stark.

Aber etwas passendes zu ihrem grossen Tag ist mir noch immer nicht eingefallen. Revanchieren, wie ich das möchte, kann ich mich eh‘ nicht. Die Tatsache, dass ich noch immer von ihnen lerne, lässt mich wieder einmal darüber nachdenken, dass ich ohne sie nicht zu dieser Harmoniebedürftigkeit gelangen konnte, wie ich sie seit Jahren in mir trage. Für Streitigkeiten ist mir die Zeit zu kostbar. Bis auf das übliche halt. Eine Lösung findet sich fast immer. Und wenn nicht, dann frag‘ ich noch manchmal sie.

Einigkeit macht stark.

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Crema Nerone

Ein kaiserliches Dessert

  • 150 ml Rotwein (Nero d’Avola)
  • 100 Gr. dunkle Schokolade (70%)
  • 2 Eier
  • Puderzucker
  • 250 Gr. Sahne
  • frische Beerenfrüchte o.ä. nach Belieben

Den Rotwein einkochen lassen – so auf knapp 2/3 Menge – und darin die dunkle Schokolade aufgelösen. Ein ganzes Ei sowie ein Eigelb mit drei gehäuften Eßlöffeln Puderzucker schaumig aufschlagen – wer es süsser mag, kann auch mehr Zucker nehmen. Wichtig aber ist, die Masse erst in die Rotwein-Schokoladenmischung zu rühren, wenn diese abgekühlt hat.

Die Sahne steif schlagen und anschliessend unter die vollständig abgekühlte Schokomasse heben, und das heisst möglichst vorsichtig. Das Ziel ist, eine zartschmelzende, lockere Crema zu erreichen, die ohne gelatine Helferlein auskommt und den puren Genuss von Schokolade und Rotwein offenbart.

Die Crema ist schön locker fluffig – auch nach einer Nacht im Kühlschrank. Wenn man denn eine reine ‚Mousse‘ haben ,möchte, kann man natürlich zusätzlich Eischnee und dafür weniger Sahne nehmen, dann wird’s aber nicht mehr ganz so ‚cremig‘. Die Zutaten kann man übrigens auch in die Eismaschine füllen.

Angeregt wurde ich wieder einmal in Rom. Die Gelateria del Teatro rühmt sich als eine der besten Eisdielen der Stadt, und das nicht zu unrecht. Nur in den Sommermonaten offerieren sie ein Eis, das nicht nur den Schokoladenfan überzeugt; die Verbindung von Kakaobohnen und Weintrauben beweist wieder einmal mehr, dass die Italiener als unangefochtene Meister der gefrorenen Gaumenfreuden einfach nicht zu toppen sind.

Sicilian Ice Tea

Vorsicht – hoher Suchtfaktor

  • 1 Teil „Safari“
  • 2 Teile Earl Grey Tea
  • 3 Teile Rotwein
  • 4 Eßl. Himbeersaft
  • ein paar Himbeeren
  • evtl. eine halbe Passionsfrucht
  • crushed Ice

Die Zutaten etwas ‚anrühren‘ und ein paar Minuten stehen lassen, damit sich das Aroma der Himbeeren ausbreiten kann. Eine halbe frische Passionsfrucht gibt noch mal den Kick. Dann mit crushed Ice auffüllen.

Die Idee stammt aus dem Obicà auf dem Campo dei Fiori in Rom – ein Insidertreff, wo sich Einheimische und Touristen gleichermassen gerne auf ein Glas Wein, einen der vielen leckeren Cocktails oder die Spezialität des Hauses „Mozzarella di Bufala“ niederlassen und das ‚dolce vita‘ geniessen. Standesgemäss nimmt man einen sizilianischen Syrah, aber eben so gut eignet sich natürlich auch jeder andere trockene, gute Rotwein.  Anstelle des Safari kann man auch Passoa oder einen fruchtigen Pfirsichlikör verwenden.

gai pad med mamuang

Ein mildes und aromatisches Gericht aus Thailand

  • 300 Gramm Hühnerbrust
  • 1/2 rote Paprika
  • 1/2 grüne Paprika
  • 1 Zwiebel
  • 1/2 Bund Frühlingszwiebeln
  • 1/2 Limone
  • 3 Knoblauchzehen
  • 3 kleine getrocknete Chilischoten
  • 1/2 Tasse getrocknete asiatische Pilze
  • 3/4 Tasse Cashew-Kerne
  • 1 Eßl. geröstete Chilipaste
  • 2 Eßl. dunkle Sojasauce
  • 1 Eßl. Austernsauce
  • 1 Eßl. Fischsauce
  • 1 Eßl. Palmzucker (ersatzweise brauner Zucker)
  • Tempuramehl
  • Erdnußöl

Die Pilze im Wasser gut einweichen und anschliessend ausdrücken. Es eignen sich übrigens alle Arten asiatischer Trockenpilze wie beispielsweise Shiitake, Reisstrohpilze und Black Fungus, notfalls kann man jedoch auch auf getrocknete Steinpilze oder Champignons zurückgreifen.

Die Cashew-Kerne in der Pfanne ohne Fett anrösten und abkühlen lassen, die Hälfte davon im Mörser fein zerstossen und den Rest beiseite stellen. Den Knoblauch in dünne Scheiben und Paprika, Zwiebel und Frühlingszwiebeln in Stücke schneiden. Die Hühnerbrust ebenfalls in Streifen schneiden und mit dem Tempuramehl bestäuben.

Die Hähnchenstücke in der heißen Pfanne oder im Wok mit ein wenig Öl knusprig anbraten und beiseite stellen. Sodann den Knoblauch hellbraun anrösten und ebenfalls aus der Pfanne nehmen, damit er nicht dunkel und damit bitter wird. Erneut ein wenig Öl in der Pfanne oder im Wok heißwerden lassen und Paprika, Zwiebel, Pilze und die zerkleinerten Chilischoten ca. 4 Minuten unter Rühren anbraten.

Anschliessend die zermahlenen Cashew-Kerne kurz mitrösten und die Sojasauce, Austernsauce, Fischsauce, Palmzucker, die restlichen Cashewkerne und das Fleisch hinzufügen und kurz heißwerden lassen. Zum Schluß die Frühlingszwiebeln und den Saft einer halben Limone zugeben und das ganze mit Jasmin- oder Duftreis servieren.